Sonntag, 28. September 2014

Victimas del pecado (Emilio Fernández, Mexiko 1950)

Bühne frei! Die ersten zehn Minuten sind den großen Auftritten der Dramatis Personae gewidmet. Zunächst ist da Rodolfo Acosta, Gangster und Zuhälter im Pachuco-Stil, der beim Friseur sitzt und sich für den Film herausputzt. Bis zur Augenbraue muss alles genau sitzen, aber wenn es ans Bezahlen geht, stellt er sich eher knausrig an. So durchgestylt macht er sich auf in den Nachtclub Changoo. Dort hat ihren Auftritt: Ninón Sevilla. In einer der für sie typischen, frenetischen Tanznummern, deren pure ekstatische Energie danach zu trachten scheint, den Bildkader zu sprengen. Schließlich, aber nicht zuletzt bekommt seinen Auftritt: ein Neugeborenes, das eine der Tänzerinnen bekommen hat, was sich frau in ihrem Gewerbe aber gar nicht erlauben kann. Erst hat es eine Einstellung, die überfrachtet ist mit Frauengesichtern, die das Kind bewundern. Dann schreckt Acosta, der Vater, vor dem Anblick des Kleinen zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser. Er geht zur Bar, bestellt sich eine ganze Flasche, gießt sich ein Glas ein und setzt dann die Flasche an. Es ist Zeit, dass Sevilla Acosta, der ihr hauptsächlicher Widersacher in dem Film sein wird, ein erstes Mal zur Rede stellt.
Acosta wird wenig später einen Überfall ausführen - ausgerechnet auf eine Kinokasse hat er es abgesehen - die junge Mutter, Rosa, wird mit gebrochenem Herzen das Kind, das er nicht anerkennen will, in einen Mülleimer in der schummrigen "verbotenen Straße", die der deutsche Titel verspricht, werfen. Nun ist es an Sevilla, es zu retten und sich seiner anzunehmen.  
Einerseits ist Victimas del pecado absolut over the top. Ein einziger Exzess voller kalter, grausamer Männer und heißblütiger Frauen - entweder bitterlich weinend oder Ninón-Style frenetisch zupackend. Ein Exzess des Lichts und des Schattens, des Rhythmus und der Musik.
Andererseits aber wird das Melodram immer wieder geerdet durch eine Darstellung der sozialen Verhältnisse im Mexiko der frühen Fünfziger. Unter denen hat vor allem das Waisenkind, das schwächste Glied in der Kette der sozialen Hierarchien, zu leiden. Zunächst findet sich niemand, der ihm die Brust gibt, weil die Frauen, die auf dem Markt sitzen und sich als Kindermädchen anbieten, es nicht mit ihren Männern vereinbaren können, fremden Kinder zu säugen. Viel später - und vorübergehend wieder ganz auf sich allein gestellt - wird er sich auf den Straßen von Mexiko City als Schuhputzer verdingen müssen.
Eine der tollsten Songs wird gesungen von Pedro Vargas als Ehrengast im Changoo. (Einmal gleitet die großartige Kamera von Gabriel Figueroa an der Reihe der Streicher entlang und, etwas später, im Takt der Musik wieder zurück.) Der Refrain lautet:
"Por qué te hizo el destino pecadora, si no sabes vender el corazón?"
("Warum hat das Schicksal dich zu einer Sünderin gemacht, wenn du dein Herz nicht verkaufen kannst?")
Der Film gibt eine Ahnung davon, dass das "Schicksal", das aus Frauen "Sünderinnen" macht, sozialer Natur ist und die Figur, die Sevilla spielt, scheint ihre ganze, schier unendliche Energie ins Aufbegehren gegen dieses Schicksal zu stecken.
Weil sie mit dem Kind nirgendwo mehr Arbeit findet, muss sie zunächst mit den anderen Frauen an der dunklen Gasse stehen und auf Kunden warten. Aber anders als in Buniuels im gleichen Jahr entstandenen Los olviddaos gibt es hier noch einen Zusammenhalt unter den Ausgeschlossenen, was auch Acosta zu spüren bekommt als er erneut versucht, seine verhasste Nachkommenschaft aus der Welt zu schaffen. (Noch eine großartige Kamerafahrt geht entlang der Gesichter von etwa zwanzig Frauen auf dem Polizeipräsidium).
Sie findet einen besseren Laden in diesem Film, der gar nicht so tut, als wäre ihm das Nachtleben grundsätzlich suspekt. Ein Bahnfahrer-Cabaret mit dem schönen Namen La Maquína Loca, das in einer wahrlich verrückten, unheimlichen Industrie-Landschaft gelegen ist. Der bessere Chef, der sich ihr und dem Kind liebevoll annimmt wird gespielt von Tito Junco.
Außerdem finden sich in der zweiten Filmhälfte wechselseitige Rache (in ihrer Dramatik kaum zu überbieten ist die Szene, in der Sevilla als Racheengel mit Revolver durchs Fenster gesprungen kommt, um mit Acosta ein für alle mal abzurechnen) und Frauenknast (hier gibt es einen weiteren atemberaubenden tracking shot entlang von Besuchern und Gittern und Frauen in Sträflingskleidung. Es scheint, dass die Kamera Figueroas dann am tollsten ist, wenn sie an möglichst vielen Menschen entlang gleiten darf).
Alles in allem ein wunderbar fotografierter, fiebriger, atemloser Film, der mit dem emotionalen Exzess ernst macht.

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