Montag, 10. Februar 2014

Die Mauer (Jürgen Böttcher, Deutschland 1990)

Die Sichtung des Films im Arsenal vergangenen Monat verlief nicht gerade optimal. Dafür, dass ich bei der Nachmittagsvorstellung irgendwie übermüdet war und mir ständig die Augen zu fielen, kann niemand was - am Film lag es ausdrücklich nicht. Dass der anwesende Regisseur sich in der letzten Szene lautstark echauffierte, dass der Ton zu leise sei und der Film dadurch verfremdet werde, machte das Kinoerlebnis allerdings auch nicht besser. Einerseits konnte ich seinen Ärger durchaus verstehen, andererseits ist es dann auch ärgerlich für jemanden, der den Film nicht zum hundertsten mal sieht, wenn gerade die letzten Minuten aus dem Kinosaal totgequatscht werden. (Dass ich nicht zur anschließenden Diskussion bleiben konnte, fand ich jedenfalls glatt etwas weniger schade.) Jedoch: Dass Die Mauer, den ich nun auf DVD nochmal gesehen habe, absolut faszinierend ist, merkte ich auch so - und zwar als Zeitdokument und als Film gleichermaßen.
Böttcher filmt das Geschehen an, unter und auf der Berliner Mauer unmittelbar nach der Öffnung. Der zeitliche Rahmen ist gesetzt vom November 1989 bis zum "The Wall"-Konzert auf dem Potsdamer Platz im Juli 1990. Natürlich weiß Böttcher, dass die Gegenwart, die er mit seiner Kamera einfängt in kürzester Zeit in den Geschichtsbüchern landen wird. Allein um Gesichtsschreibung geht es dem Film absolut nicht. Die Bilder von der Mauer, vom gespenstischen S-Bahnhof Potsdamer Platz und vom Brandenburger Tor werden auf keine Weise kommentiert; einen Voice Over gibt es ebenso wenig wie eingeblendete Daten, o. ä., extradiegetische Musik schon gar nicht.
Vielmehr scheint es Böttcher, DDR-Dokumentarfilmer und - unter dem Namen Maler Strawalde - Künstler darum, Geschichte auf eine ganz bestimmte Art erlebbar zu machen. Das wird etwa deutlich in den Szenen, in denen Böttcher historische Aufnahmen gegen die Mauer projiziert: Paraden zur Kaiserzeit, das Brandenburger Tor unter Hakenkreuzbeflaggung und die Fackelzüge der Nazis, Bilder aus dem geteilten Berlin und schließlich von der Maueröffnung. Böttcher ist auf der Suche nach der Materialität von Geschichte, ihren Texturen. Was ist Geschichte? Wie fühlt sie sich an? Wie klingt sie? In einer Szene legt eine Frau ihr Ohr an die Mauer, sie behauptet man könne hören, was drüben auf der anderen Seite passiert. Was sie hört sind jedoch vor allem die Geräusche der "Mauerspechte", wie man die Leute nannte, die mit Hammer und Meißel Stücke aus der Mauer klopften, um sie zu verkaufen oder als Souvenir mit nach hause zu nehmen. Auch die holt Böttcher kurz vor seine Kamera, etwa zwei türkischstämmige Jungs, die ihre Stücke feil bieten oder eine Gruppe japanischer Touristinnen. Der Klang der Gesichte im Berlin Ende 1989 scheint ein beständiges tack-tack-tack-tack zu sein, bei dem sowohl historische Artefakte als auch neue Texturen entstehen.
Geschichte, wie wir sie kennen, wird aber auch sehr deutlich als Inszenierung erkennbar. Vor dem Brandenburger Tor wird eine Reportage für CNN aufgenommen, viermal wiederholt der Reporter sein Statement: "this gate going nowhere, now goes somewhere. And all of East Germany knows where it goes."
In der Silvesternacht 89/90 schmeckt Geschichte dann hauptsächlich nach Sekt und riecht nach dem Feuerwerk, das den Himmel über dem Brandenburger Tor erhellt. Ein junger Mann hält eine leere Flasche Wodka Gorbatschow in die Kamera und ruft dazu: "Gorbi, Gorbi, Gorbi...." Ein anderer verkündet, am Boden sitzend, Woodstock sei gar nichts dagegen. Indem es der Kamera mitten im Getümmel gelingt, eine gemessene Distanz zu wahren, verwehrt sich der Film erfolgreich gegen jede platte Nutzbarmachung des Gezeigten. Er feiert nicht mit, er kritisiert aber auch nicht den kapitalistischen Event-Charakter, den Geschichte im späten zwanzigsten Jahrhundert angenommen hat, oder warnt, dass nach dem Rausch der Kater kommt. Vielmehr interessiert er sich im Großen, in den Massenaufläufen, im historischen Ereignis für das Kleine, die einzelnen Menschen, die einzelnen Begegnungen. In der Silvesternacht kommt ein junger Italiener mit einer Frau aus Kansas City ins Gespräch. In einer anderen Szene flirtet eine Frau aus Hannover mit einem jungen Volkspolizisten, Nummern werden getauscht. Klaus Kremeier bezeichnet das als "Liebesgeschichte im Schnee. Die Liebesgeschichte entsteht aus dem Nichts und flattert ins Nichts zurück."
Klar ist da begegnet sich was im Berlin der Maueröffnung. Was daraus werden wird, das ist eine andere Gesichte.

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