Montag, 20. Januar 2014

Das rote Zimmer (Rudolf Thome, Deutschland 2010)

Ein Mann zündet Kerzen an, die auf einem reich gedeckten Tisch stehen. Letzte Vorbereitungen für ein romantisches dinner for two. Es klingelt an der Tür, draußen steht eine Frau, allerdings nicht die Frau, die er erwartete. "Wer bist du denn? Ich sagte doch, Jaqueline soll kommen." Die falsche Prostituierte betritt das Phantasiegebäude des Mannes, der offensichtlich mit seinem Geld wesentlich mehr kaufen wollte als Sex, als einen Körper, wie der Elefant den Porzellanladen. Sie mustert den Tisch. "Was ist das denn? Ich dachte, du wolltest ficken. Oder gehört das bei dir zum Vorspiel dazu?" "Ich wollte mit Jaqueline meinen Geburtstag feiern." Eilig stopft sie die sorgfältig auf ihrem Teller zu recht gelegten 100 Euro-Scheine in ihr Portemonnaie. Den Mantel, unter dem sie nichts anhat, auszuziehen kostet noch mal 100. "Weißt du, das Leben ist teuer. Und die Liebe auch."
Dass es in der grandiosen Eröffnungsszene von Das rote Zimmer um eine Enttäuschung geht (und ich finde, sie illustriert sehr schön, wie die eigentliche und die übertragene Bedeutung dieses Wortes zusammenhängen) ist klar. Die Themen jedoch, die hier anklingen (also in etwa "käufliche" vs. "echte Liebe", die Kapital-Flüsse, die unter einer bestimmten Begehrensstruktur liegen und hier schonungslos, auch mit einem gehörigen Maß Sadismus, freigelegt werden) sind schwerlich Thome-Themen. Für den folgenden Film spielt denn auch ein anderer Aspekt dieser Szene eine Rolle: Die Austauschbarkeit der Menschen, die bei Thome nichts negatives hat, den Menschen nicht "entwertet", sondern eher logische Folge aus seiner Vergänglichkeit ist.
Der Mann heißt Fred (Peter Knaack) und ist "Kuss-Forscher" an der Technischen Universität Berlin. In seinem Labor sieht er jungen Paaren beim Küssen zu und wertet anschließend ihr Blut und ihren Speichel aus. Fred ist über die Trennung von seiner Frau nie hinweggekommen. Die Scheidung steht an.
Gleich zu Beginn montiert der Film parallel zur Geschichte Freds einen zweiten Handlungsstrang um zwei Frauen, Lucie (Katharina Lorenz) und Sibil (Seyneb Saleh). Sie wollen ein Buch schreiben über die Seele der Männer. Dazu suchen sie in den Bibliotheken und Buchhandlungen Berlins ("Wer einsam ist, liest Bücher.") Männer, die als Untersuchungsobjekte herhalten sollen. So lernt Lucie Fred kennen, den sie in das Haus in Mecklenburg-Vorpommern einladen, in dem sie ihre "Studien" durchführen. Sehr lose, nach und nach, fächert der Film die Geschichten seiner drei Hauptfiguren auf, lässt sich auch eine knappe halbe Stunde Zeit, um sie schließlich zusammen zu führen.
Im Mittelpunkt dieses, wie vieler anderer Filme des Regisseurs steht eine Reise-Bewegung. Das Berliner Milieu zu Beginn ist - zumindest stadt-geographisch - sehr genau gezeichnet. Wenn sich der in Kreuzberg lebende Fred scheiden lässt, geschieht das im Familiengericht Kreuzberg. Wenn Sibil in die Staatsbibliothek geht, ist die Berliner Staatsbibliothek die Berliner Staatsbibliothek (und der Weg dorthin ist der Weg dorthin). Ein TU-Mitarbeiter hat auch eine TU-Visitenkarte, usw. Das Haus auf dem Land, in das die Reise führt, scheint dann aber vor allem in Thome-Country zu liegen. Hier finden sich unzählige und immer konkretere Bezüge zum bisherigen Schaffen des Regisseurs. Schon gleich zu Beginn, in den ersten hier angesiedelten Szenen sieht man: Zwei Frauen im Bett, am Frühstückstisch, am See und weiß: Ein Thome-Film. Eine Frauen-WG mit rotem Zimmer (bzw., ich hab gerade nochmal nachgesehen, rotem Flur und einigem roten Mobiliar) gab es bereits in Thomes zweitem - und wohl bekanntestem - Film Rote (!) Sonne. Und auch in dieser wurde mit Männern ein (freilich ungleich blutigeres) Spiel arrangiert. Spaghetti mit Butter und Käse, die in Das rote Zimmer einmal gegessen werden, spielten schon in Das Geheimnis eine Rolle (übrigens gab es auch Pläne, dass sie dem Film seinen Titel geben sollten). Und um explizit polygame Beziehungsgeflechte ging es - unter anderem - auch in Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan und Der Philosoph.
Gleichzeitig bildet die Reise aber auch den - vorläufigen - Endpunkt dreier Biographien, die sehr bewusst fragmentarisch gehalten werden. Über die Gründe, warum die Ehe Freds gescheitert ist, erfährt man kaum etwas. Nur kurz angerissen werden auch die Geschichten der beiden Frauen. Die Kurdin Sibil ist von Zuhause abgehauen, weil sie in der Türkei zwangsverheiratet werden sollte. Lucie ist eine geschiedene Schriftstellerin mit Geldsorgen, die auf dem Land an einem Roman arbeiten will.
Thome, der sich selbst gerne als Feministen bezeichnet, nutzt die Gelegenheit, die ihm dieser Plot bietet, um (sexuelle) Machtverhältnisse umzukehren durchaus. Fred, dem ja schon in der ersten Szene eine Kontrolle über die Situation, die er gerne gehabt hätte, radikal entzogen wird, entwickelt sich im Verlauf des Films vom Subjekt zum Objekt der Forschungen - und damit auch des Blicks. Gleich nach seiner Ankunft etwa fordert ihn Lucie auf, im See zu baden, da er keine Badehose hat, eben ohne. Später gibt sie unumwunden zu, dass sie ihn nur nackt sehen wollte.
Wichtiger als dieser Gender-Aspekt scheint mir jedoch der "therapeutische" Wert, den das Geschehen des Films für ihn hat. Von der Fixierung an seine Ex-Frau gelangt er zur Erkenntnis von der Vergänglichkeit menschlicher Beziehungen und Gefühle. In der Dynamik, die sich zwischen den drei Figuren entfaltet, passiert das, was man vorausahnen könnte. Also: zunächst verliebt sich Lucie in Fred, was Sibil eifersüchtig macht - eher auf Fred als auf Lucie. Dann ist Lucie ihrerseits eifersüchtig, weil Sibil zuerst mit Fred geschlafen hat. Fred hingegen verliebt sich immer mehr in beide Frauen. Nichts davon ist unbedeutend, aber auch nichts in Stein gemeißelt, fest gefahren, fixiert. Alles ist vergänglich, wie ein paar sonnige Sommertage auf dem Land. Und genauso schön. Dass dann am Ende eine Art polygamer Ehe-Vertrag aufgesetzt und mit Blut unterschrieben wird, ist im Kontext des Films reine Ironie. Denn gerade um die unbedingte Schönheit des Vergänglichen geht es.

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