Freitag, 30. August 2013

Fantasy Filmfest 2013: Come out and play (Makinov, Mexiko 2012)

Als braver Rezensent dieses Filmes muss man wohl mit der Frage beginnen: Wer steckt dahinter? Wer ist der Regisseur, ach was, das mastermind hinter dem Namen Makinov und der Maske?
Hier die Fakten: Makinov hat, so will es die IMDb und so sollen wir es wohl glauben, vor Come out and play nichts gemacht, dafür hier gleich alles selber: Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt, Sound, Produktion: Makinov. Makinov gibt seine Identität nicht preis, er tritt in der Öffentlichkeit und also auch am Set ausschließlich unter einer roten Kapuze auf. Weil es sich so schwer reist, hat er zum Filmfestival in Toronto, zur Aufführung des Films eine Art Bekenner-Video geschickt: Makinovs Manifest. "Warum," fragt Makinov darin auf Russisch mit verzerrter Stimme und englischen Untertiteln, "sehen wir uns im Kino Filme an, in denen dämliche Superhelden die Welt retten, während es in dieser in Wirklichkeit so viel Schmerzen gibt? Warum sollte man sich Fotos auf Facebook angucken, wenn man in den Wald gehen und ficken könnte?" Hach ja, große Fragen unserer Zeit, pontiert auf den Punkt gebracht. Danke, Makinov! Du großer (wenn auch etwas reaktionärer) Revolutionär im Subcomandante Marcos-Look. Ob das alles nun nur Marketing ist oder ob da einer auch persönlich eine ganze Menge Aufmerksamkeit braucht, sei an dieser Stelle einfach mal dahingestellt. Auf twitter jedenfalls findet man den social media-Hasser als "onegodmakinov". Aha.
Und der Film? Der ist ein Remake von Narciso Ibáñez Serradors ¿Quién puede matar a un niño?, dessen Handlung um ein Paar, das es beim Urlaub auf einer kleinen Inseln mit mordenden Kindern zu tun bekommt, wurde von Spanien nach Mexiko verlegt. Der Mann und seine hochschwangere Frau sind hier nicht mehr Engländer, sondern US-Amerikaner. Ansonsten hält sich Makinov geradezu sklavisch an den Handlungsverlauf des Vorgängers, und stellt einige von dessen markantesten Szenen (die tote Frau im Supermarkt, das erschossene Kind am Fenster, die western-artige Gegenüberstellung des Paares und der Kinderhorde gegen Ende) ziemlich originalgetreu nach. Come out and play ist die Art von Horrorfilm-Remake, an der es erstmal nicht viel auszusetzen gibt, und die die Welt denoch nicht braucht.
Nichts auszusetzen, weil jeder, der von einem Horrorfilm härterer Gangart nicht mehr erwartet als 90 Minuten ohne dramaturgische Durchhänger, dafür mit einigen gekonnt in Szene gesetzten thrills und kills, hier durchaus auf seine Kosten kommt.
Von der Welt nicht gebraucht, weil Makinov nicht einmal den Verusch unternimmt, dem Stoff irgendetwas Neues abzugewinnen. Er liefert eine nicht nur konventionellere, künstlerisch uninteressantere, sondern letztlich auch harmlosere Version des Films ab. Das Verhältnis von Original zu Remake findet schon in den Titeln seinen Niederschlag. Während ¿Quién puede matar a un niño? sowohl die Transgression als auch das moralische Dilemma, um die es Serrador ging, schon im Titel trug, passt es gut, dass Makinov diesen durch den generischen Come out and play ersetzt.
Der achso rebellische Filmemacher geht gleich doppelt auf Nummer Sicher. Einerseits hält er sich eben so streng an die Vorlage, dass wer diese nicht kennt (aber eben auch nur der) durchaus einen intensiv inszenierten Schocker zu sehen bekommt. Andererseits schmiegt er sich mit Wackelkamera und Cinemascope, mit einigen blutigen Details, die zu den wenigen Abweichungen von Serradors Film zählen, und Hauptdarstellerin Vinessa Shaw (Genre-Fans wohl vor allem durch das The Hills have Eyes-Remake bekannt) sanft an den Stil neueren Horror-Kinos made in Hollywood an. Come out and play will also einerseits schockieren, andererseits niemanden ästhetisch überfordern.
Ein Film von jemandem, der der Welt irgendetwas, es muss ja nicht gleich etwas neues sein, zu sagen hätte, würde anders aussehen. Guerilla filmmaking, was auch immer das auch sein könnte, so wie so.

Donnerstag, 29. August 2013

Fantasy Filmfest 2013: El desierto (Christoph Behl, Argentinien 2013)

Draußen tobt die Zombie-Apokalypse. Drinnen sitzen Ana, Jonathan und Axel. In einem kleinen heruntergekommenen Haus am Rande einer Stadt, von der nicht viel übrig ist, haben die drei Zuflucht gefunden vor den gefräßigen Horden. Abwechselnd gehen zwei von ihnen raus, schwer bewaffnet und gegen Beißattacken gepanzert, um das Notwendigste, Nahrung, Wasser und Benzin für den Generator im Hof, in den Trümmern der Stadt zu besorgen. Dass Ana und Jonathan ein Paar geworden sind und sich Axel - nicht wirklich heimlich - in seinem Begehren für Ana verzehrt, macht das Leben in der postapokalyptischen Zwangs-WG nicht eben einfacher.
El desierto konzentriert sich ganz auf seine drei Figuren, wobei die Kamera meistens so nah an ihren Körpern ist, dass man sich in den wenigen Räumen, in denen der Film beinahe ausschließlich spielt, nie wirklich eine Orientierung verschaffen kann. Jedenfalls ist alles in diesem Haus, getaucht ins ständige Dämmerlicht, das durch die Milchglasscheiben fällt, vergilbt, verbraucht, abgefuckt. Von der Gegenwart kündet hier außer - bezeichnenderweise - einer Video-Kamera und einigen vollautomatischen Waffen kaum etwas. Die Hitze und die schlechte Luft werden durch das Licht und die allgegenwärtigen Fliegen (deren Summen einen entscheidenden Anteil am bedrückenden sound design des Films haben) beinahe physisch erlebbar.
Das Außen zu diesem Innen existiert gleich in doppelter Hinsicht nicht (mehr). Nicht nur kann man die Einstellungen, die mehr zeigen als die wahrlich beengenden Räume des Hauses und des wiederum durch Mauern streng begrenzten Hofes an einer Hand abzählen. Diese wenigen Einstellungen, die einzigen "echten" Totalen des Films, unscharf und grau, dienen dann auch hauptsächlich dazu, zu zeigen dass es da draußen nichts mehr gibt, wohin man flüchten könnte: ein Schwenk über eine verfallene Skyline, eine Straße, in der sich die Leichenberge türmen, und die zu allem Überfluss noch eine Sackgasse ist. No. Way. Out. Gerade in seiner Inexistenz ist dieses Außen die Vorraussetzung, für die Geschichte im Innen, um die es Behl geht. Die Zombies (oder auch, dazu später: der Zombie) und die Apokalypse sind hier wenig mehr als plot devices in einem wahrlich klaustrophobischen Dreiecks-Beziehungsdrama.   
Zu dem fehlenden Außen gesellen sich die mangelnden Rückzugsmöglichkeiten für die einzelnen Figuren im Inneren des Hauses. Ana hat dafür, mehr schlecht als recht, eine Lösung gefunden. All das an Gedanken und Gefühlen, was jeder einzelne der Gruppe den anderen beiden nicht erzählen kann, erzählt er statt dessen einer Video-Kamera, wobei die jeweiligen Bänder für die anderen unzugänglich aufbewahrt werden.  "Consultorio" hat sie das getauft. Die Kamera als Therapeut. Das Videotagebuch als letzte Form einer Privatsphäre, die es in der Welt des Films eigentlich nicht mehr gibt. In diesen Video-Aufzeichnungen stellen sich nicht nur die drei Protagnisten zu Beginn selbst dem Zuschauer vor, sie erzählen der Kamera, also auch uns, das, was sie einander eben gewiss nicht sagen könnten. So beschwert sich Ana nicht nur über Axels Voyeurismus, über ihren Freund erfahren wir auch: "Jonathan ist Ingenieur. Er fickt auch wie ein Ingenieur."    Diese Sätze unterstreichen nicht nur das Erzwungene in dieser Gemeinschaft, in der man einander, darum geht es, mehr braucht als in so ziemlich jeder anderen vorstellbaren, aber die doch eben gerade dadurch immer Zweckgemeinschaft bleibt, es charakterisiert auch gut Jonathans Rolle im Film. Letztlich steht, allem Anschein der Figurenkonstellation zum Trotz, er als Mann ohne Eigenschaften, eher zwischen den beiden anderen wesentlich interessanteren Figuren. Ana hat nicht nur das Consultorio eingerichtet, sie schreibt auch für jeden Zombie, den sie getötet hat einen Namen an die Wand des Wohnzimmers. Sie versucht also einerseits händeringend Wege zu finden, mit der gegenwärtigen Situation umzugehen, andererseits scheint sie auch an eine mögliche Zukunft zu denken, für die man als Monument den anonymen Toten Namen hinterlässt. (Wer möchte, kann ihre Besessenheit mit Namen auch im Hinblick auf einen, nie ausgesprochenen Kinderwunsch, deuten.) Axel hingegen scheint sich soweit mit dem Verfall - und dessen einziger möglicher Konsequenz - arrangiert zu haben, dass er ihn sich langsam auf seinen eigenen Körper einschreibt, indem er sich diesen vollständig mit Fliegen voll tätowiert. Wenn es keinen Platz mehr für mehr Fliegen gibt, so sagt er, wird er gehen.
Was den Film, und den Ausnahmezustands-Alltag von dem er handelt, strukturiert, sind zum einen die verschiedenen Spiele, mit denen sich die drei abzulenken versuchen, zum anderen die Blicke, in denen Regisseur Christoph Behl das Beziehungsdreieck auflöst. Ausdruck des Begehrens - vor allem natürlich Axels für Anas - sind diese Blicke einerseits, andererseits auch von klar strukturierten Machtverhältnissen. Ana versucht das Machtverhältnis der Blicke um zukehren, indem sie sich vom Objekt von Axels voyeuristischen Blicken, mit denen er sie nackt im Bett und unter der Dusche ansieht, zum Subjekt macht. Ihn, so sagt sie, "obsessiv beobachtet", ihn ständig anstarrt und hinter ihm herläuft bis zur Toilette, wo sie ihm beim Pinkeln auf den Schwanz guckt. Diese Umkehrung gelingt ihr, soviel kann man wohl sagen, ohne zu viel zu verraten, nicht.
Blick, Spiel und Macht treffen sich in dem Blickduell zwischen Axel und Jonathan, bei dem verloren hat, wer zuerst wegguckt. Über dieses Spiel kommt schließlich auch der vierte "Mitbewohner" ins Haus. Beim Flaschendrehen wählt Axel Pflicht und Jonathan fordert, dass er Blickduell mit einem Zombie spielen soll. Diesen bringen die beiden Männer dann tatsächlich von ihrem nächsten Ausgang mit. Der Zombie an der Kette verweist nicht nur direkt auf Day of the Dead (mit Romero hat der Film dann übrigens, so atypisch er als "Zombiefilm" auch sein mag, doch eine ganze Menge zu tun), er liefert auch ein Ventil für die ständig zunehmenden Agressionen zwischen den Figuren. Einen Körper, an dem all die Gewalt, die sich in der Gruppe mehr und mehr anstaut, bis man in dem Haus, so sagt Jonathan gegen Ende und diese Atmosphäre wird auch für den Zuschauer immer mehr greifbar, nicht mehr atmen kann, hemmungs-, reue- und konsequenzenlos ausagiert werden kann.
Behl macht zunächst sehr vieles richtig: Die Intensität, auf die er offensichtlich abzielt, erreicht er über weite Strecken durchaus. Immer wieder werden Konflikte nicht zu Ende geführt, nicht aufgelöst, weil sie in der gezeigten Welt nicht mehr aufgelöst werden können. Einerseits erinnerte mich - nicht nur - das an Lucrecia Martel (ein Einfluss, den mir Behl im anschließenden Q&A auch bestätigte), andererseits werden hier auch geschickt geschürte (Genre-)Zuschauererwartungen ein ums andere mal in die Irre geführt. Mit seinen minimalen Mitteln erzielt er tatsächlich immer wieder maximalen Effekt, oder eher: Affekt.
Ein bisschen ratlos hat mich der Film schließlich denoch zurück gelassen. Die Auflösung trivialisiert das Ganze in seinem Detail- und Anspielungs-reichtum dann doch etwas arg. Auf die Frage eines Zuschauers nach der Botschaft seines Films wollte Behl natürlich keine Antwort geben, verwies darauf, dass das Aufgabe der Zuschauer bzw. Kritikers sei, es aber wohl einiges zu entdecken gäbe. Vom Ende her betrachtet ist die "Botschaft", die sich mir erschließt, dass drei einer zu viel sind und auch in der absoluten Extrem-Situation letztlich nicht zusammenwächst, was nicht zusammen gehört, die materiellen und emotionalen Abhängigkeiten innerhalb des Trios keine Grundlage für irgendwelche "gesunden" Beziehungen bieten. Das ist dann irgendwie doch ein recht minimales Ergebnis bei maximalem Affekt-Aufwand.

Den Namen des in Argentinien lebenden deutschen Regisseurs Christoph Behl, der hier nach einem Kurzfilm und einigen Dokus sein Langfilm-Debüt vorlegt, kann man sich aber wohl trotzdem getrost merken.    

Montag, 19. August 2013

Resümee: Lateinamerikanische Filmtage

Leider habe ich es nur geschafft, mir drei der sieben Filme aus sieben verschiedenen Ländern Lateinamerikas anzusehen, die vom 8.-16. August in der HU zu sehen waren: den argentinischen Pizza, birra, faso, den chilenischen La nana und den guatemaltekischen Cápsulas. Ersteren fand ich ziemlich gut, zweiteren ziemlich zwiespältig und den letzten, bei allem Respekt für seine filmhistorische Bedeutung als erster Film einer Regisseurin aus Guatemala, leider ziemlich schrecklich.
(Ob sich unter den anderen vier Filmen für meinen bescheidenen Filmgeschmack Meisterwerke befanden, kann ich natürlich ebenso wenig sagen, wie, inwieweit sie sich in die gemeinsamen Tendenzen, die ich hier kurz skizzieren möchte, einreihen lassen.)
Die Veranstalter/innen der Reihe betonten, dass das Thema Gewalt in allen Filmen auf sehr unterschiedliche Art eine Rolle spielte.

Die Protagonisten von Adrián Caetanos Pizza, birra, faso, eine Gruppe von Straßenkindern in Buenos Aires, die notdürtig in einem besetzten Haus Unterschlupf gefunden haben, sind immer zugleich Objekt und Subjekt der Gewalt. Einerseits sind sie Opfer der Marginalisierung, staatlicher Repressionen und der Ausbeutung derjenigen, die sich ihre Notlage zu Nutzen machen, um sie als "billige" Handlanger in ihre kriminellen Aktivitäten einzubeziehen, andererseits sind sie Täter, weil sie eben die Gewalt in Raubüberfällen zu ihrem Geschäft machen, um sich Geld fürs Überleben, was für sie vor allem bedeutet, für die titelgebenden Pizza, Bier und Zigaretten zu beschaffen. Trotz der für ein Erstlingswerk durchaus verzeihlichen Schwächen in Dramaturgie und Figurenzeichnung, ein in der Radikalität seiner Botschaft ebenso wichtiger wie bewegender Film. Wie in seinen späteren Filmen benutzt Caetano schon hier Mittel und Versatzstücke des Genre-Kinos zu seinen eigenen Zwecken. Der letzte Coup, der den Ausbruch aus dem bisherigen Leben ermöglichen soll, muss hier, wie in wohl Hunderten von Gangster-Filmen zuvor, scheitern, weil man eben die Spirale der Gewalt nicht mit Gewalt durchbrechen kann. Die sozialen Hierarchien bleiben undurchdringlich. Der Weg aus der Ersatzfamilie der Gang in die traditionelle Familie bleibt seinen Protagonisten auf tragische Weise verwehrt. (Wobei es schon beeindruckend ist, wie es Caetano in der letzten Einstellung, wie auch in seinem späteren Meisterwerk Bolivia, versteht, dieser Tragik jedes Pathos zu nehmen und sie in ihrer ganzen bösen Banalität zu zeigen.) Wie in Pizza, birra, faso spielt auch in den anderen Filmen neben der Gewalt - und eng mit dieser verbunden - die Familie eine zentrale Rolle.
Sebastián Silvas La Nana, so anders der Film stilistisch und thematisch auf den ersten Blick auch sein mag, erzählt letztlich von einer ähnlichen Verbindung von Marginalisierung und Gewalt. Raquel arbeitet als Nana, was im chilenischen Spanisch Hausangestellte bedeutet, im Haus einer Familie aus der Oberschicht von Santiago de Chile. Diese gutbürgerliche Residenz übrigens, die der fast ausschließliche Schauplatz des Films ist, wird bei Silva ebenso zu einer Art eigenständigen Protagonisten wie das - überwiegend nächtliche - Buenos Aires mit seinen frappierenden sozialen Gegensätzen bei Caetano. Allerdings sind die Beziehungen zwischen oben und unten, die Mechanismen der Ab- und Aus-Grenzungen in diesem Haus wesentlich komplexer und subtiler als in der Stadt in Pizza, birra, faso. Die reine Segregation der ersten Szenen (Raquel isst in einem Zimmer, die Familie in einem anderen) ist absichtlich trügerisch. Die starke Konzentration auf seine Titelfigur ist zugleich Stärke des Films und sein größtes Problem. Raquel, von Catalina Savedra durchaus beeindruckend gespielt, scheint sich vollkommen für ihre Arbeit aufzuopfern, alle Verbindungen zu ihrer Herkunft, was auch und vor allem bedeutet: ihrem sozialen Status kappen zu wollen, um ganz zu der Familie zu gehören, für die sie arbeitet. Aber sie lebt doch in dem ständigen Bewusstsein, nie ein vollwertiges Familienmitglied, nie Gleiche unter Gleichen zu sein. Das Mitleid, das eine solche Situation beim Zuschauer hervorrufen könnte, unterwandert der Film geschickt, indem er die unbarmherzige Gewalt zeigt, mit der Raquel ihren Status verteidigt. Als die Hausherrin ihr eine zweite Angestellte zur Seite stellen will, um sie zu entlasten, weiß Raquel diese, die sie als reine Konkurrentin empfindet, mit einem Sadismus, der des öfteren über reine Zweckdienlichkeit hinausgeht - und dabei auch mal ins Komische kippt - zu vergraulen. Dass die Fokusierung auf Raquel und ihre Befindlichkeit eine tiefergehende Analyse der psychologischen Dynamik zwischen Bediensteten und Herrschaften, wie sie sich etwa in Lucrecia Martels La Ciénaga findet, verhindert, dass der Film letztlich eher persönliche Psychopathologie sieht, wo es doch eindeutig soziales Unrecht gibt, ist das Eine. Schlimmer ist jedoch seine Lösung des Problems in Form von Lucy, die künftig mit Raquel zusammenarbeiten soll, und ihr genaues Gegenteil ist: humorvoll, lebensbejahend, fest in ihrem eigenen Leben verankert. Indem sie auf Raquels Aggression mit Liebenswürdigkeit und Humor reagiert, gewinnt sie bald ihre Zuneigung. Wenn diese Deus-ex-machina-Figur schließlich wieder verschwindet, deutet die letzte Szene - mehr oder weniger - zaghaft an, dass sich auch Raquel verwandelt hat, zumindest ein bisschen von Lucy auf sie abgefärbt hat. Nur, was soll uns das sagen? Dass sich mit der richtigen Einstellung jede Biographie aushalten lässt? Auch die der ewigen Dienerin. Anstatt die Machtverhältnisse, die er darstellt in Frage zu stellen, setzt der Film also schließlich auf falsche Versöhnlichkeit.
Die Zweideutigkeit des Titels Cápsulas, Verónica Riedels Debutfilm, verweist letztlich schon auf zwei Formen der Gewalt: die der Drogenkriminalität und die der dysfunktionalen Familie. Einerseits bezieht er sich auf die Kapseln, in denen Drogen durch Guatemala - und ganz Mittelamerika - von Süd nach Nord geschmuggelt werden, andererseits verweist er auch auf den abgeschlossenen Raum einer Familie. Anhand einer wirklich reichlich dysfunktionalen Familie versucht der Film vom Schicksal einer ganzen Weltregion zu erzählen, die langsam in der Welle der mit dem Drogenhandel in Verbindung stehenden Gewalt zu ertrinken droht. Allein diese Prämisse ist wohl schon, sagen wir, das Gegenteil einer guten Idee, das sich in Klischees geradezu suhlende Thriller-Rührstück, das die Regisseurin dann aus dieser Idee macht, strotzt jedoch fast jeder Beschreibung. Im Mittelpunkt steht der zwölfjährige Fonsi. Seine Mutter Lupe hat einst seinen Loser-Vater, der übrigens zwischenzeitlich vom Alkoholismus zu esoterischem Gaga-Hippietum konvertiert ist, verlassen und ein Arschloch geheiratet, das es (leider muss man in diesem Film fragen: wie sonst?) durch Drogenhandel zu beträchtlichem Reichtum gebracht hat, um ihrem Sohn ein "gutes Leben" zu ermöglichen. Um das Figuren-Repertoire aus dem Stereotypen-Bilderbuch abzurunden, kommt zu dieser Familie, die der Hausangestellten, hauptsächlich deren Kinder, die tun was Ghetto-Kids eben tun: rappen, sich die Arme voll tätowieren, Drogen nehmen und verkaufen und mit allerlei Waffen rumfuchteln. (Auch wenn die Figurenzeichnung etwas ist woran Pizza, birra, faso letztlich eher kränkelt, ist der qualitative Unterschied in der Darstellung der Jugendlichen aus den Slums hier und dort doch absolut frappierend.) Fonsi hat ein Hobby. Er zeichnet die Baller-Spiele mit seinen Freunden auf und verarbeitet diese Aufzeichnungen mit computergenerierten Blutfontänen zu Ego-Shooter-Videoclips. Aus diesen - kein bisschen unschuldigen - Spielen im Garten am Anfang, wird am Ende im großen Show-Down im Wald blutiger Ernst. (Man bemerke die Transformation der simulierten in reale Gewalt, aus Spielzeug- werden echte Pistolen, aus CGI- echtes Blut, aus dem "künstlichen" Schlachtfeld des Gartens, das "echte" des Waldes.) Jedenfalls werden schließlich im melodramatischen Suspense-Modus, der mich in seiner Möchtegern-Virtuosität irgendwann nur noch genervt hat, die Konflikte und Traumata ausagiert, dass es nur so seine Art hat. Supertough will das alles sein und trotzdem auf eine Happy End hinaus, dass der Plot und die, nun ja, Figuren beim besten Willen nicht hergeben. Mit der Realität der schrecklichen Zustände, die in Mittelamerika herrschen und jeden Tag Hunderte von Menschenleben fordern, hat dieser Film wohl in etwa so viel zu tun wie Fonsis Clips mit realer Gewalt.

Zu Pizza, birra, faso werde ich, sobald ich die Zeit dazu finde, noch einen eigenen längeren Text schreiben.

Ausserdem möchte ich den schönen Abend, an dem ich nach La nana mit Georg und Matias, kettenrauchend am Spreeufer saß und wir uns über den Film, Frauen, Männer, Gott und die Welt unterhielten an dieser Stelle noch kurz erwähnen.

Samstag, 17. August 2013

El abrazo partido (Daniel Burman, Argentinien 2004)


"Eine Einkaufspassage trügt. Für die Kunden sind wir nur Verkäufer, die nach Ladenschluss verschwinden. Aber wir wissen, dass wir viel mehr sind, dass es hinter unseren Schaufenstern, die eine oder andere Geschichte gibt, die, auch wenn sie vielleicht nichts besonderes ist, doch wert ist, erzählt zu werden." Mit diesen Worten führt - das ist wörtlich zu verstehen - Ariel, Protagonist und Voice-over-Erzähler, uns in den Film und die Einkaufspassage, die Hauptschauplatz von El abrazo partido und seines Lebens ist. "Die Einkaufspassage" heißt auf spanisch "La galería" und so lautet auch der erste der Zwischentitel, die den Film gliedern. In dieser Exposition (was eben auch "Ausstellung" heißen kann) führt uns Ariel Makaroff (Daniel Hendler) durch die Passage wie durch eine Galerie, in deren chaotischen und hoffnungslos überfrachteten Räumen hauptsächlich Menschen ausgestellt werden. Ariel charakterisiert diese Menschen vor allem durch ihre ausgeprägten Idiosynkrasien: die ewig rumschreiende italienische Großfamilie (der Mann repariert Radios, die Frau schneidet Haare), das koreanische Paar, das Feng Shui "verkauft" und von dem man sonst nichts weiß bzw. versteht, die beiden jüdischen Händler, die sich in breitem argentinisch mit eingestreuten jiddischen Vokabeln über die mangelhafte Qualität von Stoffen auslassen, die nicht mehr ganz junge aber ebenso attraktive wie aufreizende Rita, die ein Internet-Café betreibt, der Schreibwarenhändler, der nicht nur Papier verkauft, sondern selbst ein vollkommen unbeschriebenes Blatt zu sein scheint, ein Mensch ohne Präsenz, ohne Geschichte, ohne Irgendwas. Dann Ariels Bruder Joseph, der Dinge, die nun wirklich niemand braucht aus der ganzen Welt importiert, was auf Grund der Dollar-Kurse allerdings gerade nicht läuft. Schließlich ist da Ariel, der seiner Mutter Sonia in ihrem Dessousgeschäft hilft.
Von gängigen Klischees ist das alles, diese Figuren wie der Mikrokosmos, den sie bevölkern, und der ziemlich überdeutlich für das große Ganze der zu Beginn dieses Jahrhunderts reichlich gebeutelten argentinischen Einwanderergesellschaft steht, zunächst schwer zu unterscheiden.
Einerseits macht der Film von Anfang an mit seinem atemlosen Tempo und seiner detailversessenen Lust am Anekdotischen ziemlich viel Spaß, hat man die komischen Vögel, die einem hier vorgestellt werden - Klischees hin oder her - auf Anhieb ziemlich gerne. Andererseits ist der Blick auf diese Welt von Anfang an ein radikal subjektiver und wenn Ariel zwar behauptet, sich für das zu interessieren, was hinter den Schaufenstern passiert und zunächst doch nur ein sehr oberflächliches stereotypes Bild abliefert von den Menschen, mit denen er sich jeden Tag umgibt, liegt das wohl daran, dass er einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um sich wirklich für sie zu interessieren.
Ariel hat sich von seiner langjärigen Freundin Estela getrennt, weil ihm die feste Bindung wie eine Falle vorkam, nach der das Leben nichts weiter als grauen Alltag zu bieten hat. Ablenkung bietet Ariel der gelegentliche betont verspielte und unverbindliche Fick mit Rita, deren liebste Zeitangabe, eines dieser reizenden Burman-Details, "manchmal" ist. Ansonsten besteht sein Lebensziel darin, "Pole zu werden". "Pole sein" wie ein weiterer Zwischentitel des Films lautet, ist ein überdeterminierter Begriff. Zunächst bedeutet es einfach, dass Ariel die polnisch-jüdischen Wurzeln seiner Familie, die einst vor dem Nazi-Terror nach Argentinien flüchtete, nutzen möchte, um die polnische Staatsbürgerschaft zu erhalten, die ihm die Tür nach Europa öffnen soll. Dann ist dieses "Pole (Europäer) werden" auch ein ebenso treffender wie sarkastischer Ausdruck für die einzige Lebensperspektive, die sich Ariel, wie vielen jungen Menschen in den ärmeren Ländern dieser Erde bietet: die Migration. Schließlich ist es Ausdruck von Ariels grundlegendem Identitätskonflikt. Sein Vater Elias ist unmittelbar nach Ariels Geburt nach Israel gegangen, um im Jom-Kippur-Krieg zu kämpfen. Gerade in seiner Abwesenheit ist der Vater, über den Ariel kaum etwas weiß, für ihn auf sehr ambivalente Art allgegenwärtig. Als Ich-Ideal einerseits, als Projektionsfläche nie ausagierter ödipaler Aggression andererseits. Die Entfremdung vom Vater spiegelt sich sich für Ariel auch in seiner Entfremdung von der jüdischen Kultur, von deren Traditionen und Ritualen man in El abrazo partido, wie schon in Burmans Esperando al mesías (2000), eine Menge zu sehen bekommt, allerdings eben aus der subjektiven Perspektive Ariels, für den sie immer ein Stück weit fremd - und befremdlich - bleibt.   
Die Prämisse des Films ist letztlich trivial, da jeder Mensch nicht nur eine Geschichte hat, sondern auch Produkt dieser Geschichte ist, durch einen bestimmten sozialen und historischen Kontext geprägt wurde, kann man anhand eines Mikrokosmos, in dem Menschen aus der ganzen Welt zusammenarbeiten auch ein kleines Stück Weltgeschichte erzählen. Treffen sich nicht nur verschiedenen Kulturen, sondern auch Geschichte und Gegenwart, die onto- und phylogenetischen Traumata und Krisen von gestern und heute. Das wunderbare an Burmans Film ist, wie er für diesen Inhalt eine Form findet. Die Konzentration auf das Kleine spiegelt sich in (fast) jeder Einstellung. Die oft stark wackelnde Handkamera ist immer nah an den Figuren. Die Totalen in diesem Film kann man wohl an einer Hand abzählen. Von Buenos Aires sehen wir in den ohnehin spärlich gesäten Außenaufnahmen kaum mehr als Köpfe und Schultern. Zusammen mit den häufigen Jump-Cuts drückt die unruhige Kameraführung nicht nur die Spannungen in Ariel selbst und zwischen ihm und den anderen Figuren, vor allem seiner Mutter, aus, die Unmöglichkeit des Zuschauers, sich in den Räumen des Films zu orientieren verdeutlicht zugleich die Orientierungslosigkeit Ariels in seinem Leben.
Am Ende gibt es eine erneuten Rundgang durch die Einkaufspassage, die sich verändert hat, nicht nur, weil einige gegangen, andere gekommen sind, sondern auch, weil Ariel seinen Platz in diesem Mikrokosmos gefunden hat. Das Coming-of-Age wird hier nicht nur erzählt als Aussöhnung mit der eigenen Geschichte und dem eigenen Umfeld, sondern auch als Schärfung des Blickes auf die Umwelt, als Willen tatsächlich den Menschen hinter der Fassade/dem Schaufenster/dem Klischee zu erblicken. All das mag reine Utopie sein, aber es ist eine schöne Utopie. Am versöhnlichen Pathos der letzten Einstellung, im Gegensatz zur Hektik des vorangegangenen Films betont ruhig und klar, in Zeitlupe, ist kein Falsch.


 Damals der erste Burman, den ich gesehen habe und für mich übrigens in vielerlei Hinsicht eine "Premiere": der erste Filme, den ich in einer Presse-Vorführung sah und einer der ersten, zu denen ich eine Kritik geschrieben habe. Inzwischen kenne ich einige andere Filme des Regisseurs, aber El abrazo partido ist für mich, nach wie vor, mit Abstand sein schönster.

Mittwoch, 14. August 2013

The Hitcher (1986/2007)




Man könnte sagen, das größte Problem von The Hitcher (2007) ist sein Titel. Für sich genommen ist der Film OK, als Remake von Robert Harmons Klassiker von 1986 jedoch muss er enttäuschen. The Hitcher war vielleicht für das amerikanische Genre-Kino der Achtziger das, was The Texas Chainsaw Massacre für das der Siebziger war. In beiden Fällen konnten erstmal relativ "kleine" Filme (eine unabhängig gedrehte low budget-Produktion dort, ein aus dem Produktionzusammenhang relativ beliebiger Genre-Konfektionsware stammender Streifen hier) einen entscheidenderen Beitrag zu den großen Erzählungen des Kinos leisten - oder wohl eher: diese radikaler in Frage stellen - als es Dutzenden von "größeren" Filmen (sei es im kommerziellen oder im "künstlerischen" Sinne) je gelungen war. Der Original-Hitcher erzählte eigentlich eine einfache, ja, geradezu minimalistische Genre-Geschichte, um einen jungen Mann, der im Auto quer durch Amerika fährt und dabei einen Anhalter, John Ryder (vom großartigen Rutger Hauer eher verkörpert als gespielt, eher eine dämonische Präsenz als eine Figur), mitnimmt, der sich als psychopathischer Killer herrausstellt. So einfach das ebenso unerbittliche wie blutrünstige Katz-und-Maus-Spiel, das nun beginnt oberflächlich betrachtet ist, so komplex ist das Geflecht unterschiedlicher (möglicher!) Interpretationen, genre- und psycho-mythologischer Verweise und Bezüge, das er spinnt. Durch den Film spuken die Americana - von den Hoperschen Tankstellen und Raststätten, bis zur Affinität von Ausstattung und Beleuchtung zum Rot-weiß-blauen - und die ur-amerikanischen Genres - von road movie über Western bis zum Film Noir. Aber nicht etwa als Subtexte, sondern im Gegenteil all das wird gründlich an die Oberfläche der Bilder gekehrt und verleiht ihnen eine - bei aller Offensichtlichkeit der Referenzen - ziemlich einmalige irgendwie gespenstische Struktur. Ein Wiedergänger von einem Genre-Film, der eben nicht versucht, dem Alten und Bekannten neues Leben einzuhauchen, sondern es gewissermaßen in seiner Zombie-Haftigkeit auszustellen. Referenz ist dabei immer das Kino. Keine Spur von Naturlismus, ja selbst Natur in der Landschaft, in der der Film spielt. Alles ist Mythos und alle Mythen sind in beständiger Auflösung begriffen. Die Reise Richtung Westen endet irgendwo auf dem Highway mitten in der Wüste, ohne das irgendetwas wirklich aufgelöst oder erreicht wäre und hat dennoch beträchtlichen Blutzoll verlangt.
Was fängt Dave Meyers Remake mit alle dem an? Nichts! Der Film entleiht beim Original lediglich den Plot mit einigen sehr signifikanten Änderungen und verarbeitet ihn zu einem grundsoliden und durchaus auch mit einigen Kabinettstücken in Sachen filmischer Angsterzeugung aufwartende Stück Genre-Handwerk. Am Ende gibt es in Form einer Inversion der Figurenkonstellation von Harmons Film, einen möchtergernfeministischen twist, der nicht nur wesentlich mehr möchtergern als feministisch ist, sondern auch längst ein Klischee im neueren Horror- und Thriller-Kino. Trotzdem ist an all dem, wie gesagt, eigentlich nicht viel auszusetzen, würde es sich nicht eben letzendlich um eines jener Remakes handeln, die alles Inkommensurable am Original tilgen, alle Brüche, die dieses ausmachten kitten und so - in diesem Fall immerhin, allein das ist ja nicht selbstverständlich - solide inszenierte Konfektionsware an den Platz von einstiger Größe setzen. In diesem Sinne: Watch the original!





Dienstag, 13. August 2013

The Devil's Advocat (Taylor Hackford, USA 1997)

Kevin (Keaneu Reeves) ist ein Strafverteidiger, der einen Fall nach dem anderen gewinnt, und schnell zu jung, zu ambitioniert, zu skrupellos für das Kaff in Florida ist, in dem er lebt. Da kommt ein Angebot einer großen Kanzlei aus New York gerade recht. Also zieht Kevin gemeinsam mit seiner Frau Mary Ann (Charlize Theron) in die große (böse) Stadt, wo John Milton (Al Pacino), sein neuer Boss wird, der ihm bald einen nie erträumten Aufstieg ermöglicht. Mary Ann jedoch, die in der heimischen Kleinstadt noch irgendwie in Opposition zur bigott-evangelikalen Mutter stand ist ihm bald nur noch ein Klotz am Bein, zumal sie langsam aber sicher den Verstand zu verlieren scheint. Der Subplot, der sich mit ihrem Schicksal beschäftigt erinnert kaum von ungefähr an Rosemary's Baby, wie sich überhaupt die Hinweise verdichten, dass mit John Milton, dem Mann mit dem bedeutungsschwanegeren Namen einiges nicht stimmt.
Und die Moral von der Geschicht? Die sieht auf den ersten Blick wohl so aus. Die Großstadt als Sündenbabel, das die Menschen noch mehr verdirbt als sie es sowieso schon sind. Die Justiz ist Teufels(werk-)zeug , dazu bestimmt, wir kennen das aus dem rechtspopulistischen Diskurs von Charles Bronson bis zur Bild-Zeitung, die Täter, nicht die Opfer zu beschützen, also es "Kinderschändern", Mördern und anderem Gesindel zu ermöglichen, frei rumzulaufen. Frauen sind entweder Huren, die sich vom Teufel verführen lassen und ihm bei seinem Verführungswerk helfen oder Mütter (oder wollen es zumindest werden). Schließlich ist da der leibhaftige Lebemann. Hedonistisch, glamourös, polyglott. Einer, der mehr Kinder hat als er zählen kann, sich die schönsten Frauen aus aller Welt importiert, und sich auch schon mal von einer von ihnen unter dem Tisch eines vollbesetzten Luxus-Restaurants einen blasen lässt. Alles in allem also eine Mischung aus Demokratie-, Frauen- und Sexualitätsfeindlichkeit, eher notdürftig als Kapitalismuskritik camoufliert, auf die sich religiöse Fundamentalisten verschiedener Konfessionen wahrscheinlich gut verständigen könnten. Es fragt sich nur, und das ist eine berechtigte Frage, ob der Film diesen reaktionären Irrsinn tatsächlich predigt oder sich doch eher über ihn lustig macht oder ihn gar endgültig ad absurdum führt. Jedenfalls hat das "Gute" hier dem Glamour des Bösen nichts aber auch gar nichts entgegenzusetzen. Al Pacion, der ja immer dann am Besten ist, wenn sich sein hemmungsloses Over Acting dem Camp öffnet, wenn in den ungezügelten Passionen, die er verkörpert das Lächerliche irgendwie mitschwingt, ohne dass er vollständig zur Karikatur wird (bei Lumet also, in Scarface oder Heat), macht seine Sache, sorry, teuflisch gut. In die gleiche Richtung zielt auch die Inszenierung, deren beträchtliche Eleganz vielleicht manchmal etwas sehr gewollt, aber auch fast durchgehend sehr gekonnt ist. Der Film weiß über satte 140 Minuten Laufzeit durchgehend zu fesseln und dass obwohl die Auflösung, die sich ja mehr oder weniger schon im Titel ankündigt, niemanden sonderlich überraschen dürfte
Es geht also nicht darum, aus der Darstellung des Bösen eine mittelalterliche Moralvorstellung zu extrahieren (zumal dieses vermeintlich Gute im Film nicht einfach nur stinklangweilig und spießig, sondern auch immer schon - sehr buchstäblich - vom Bösen befruchtet ist), sondern der Film handelt von der Suggestivkraft des gezeigten Bösen, das, das ist wohl Absicht, mit gängigem Hollywood-Glamour einiges gemein hat. Der Film gibt dem Zuschauer nicht die Möglichkeit, sich auf einen übergeordneten moralischen Standpunkt zu stellen, er ist immer schon Objekt der Kino-Veführungsmaschine, und das wird ihm ein ums andere Mal auch vor Augen geführt. Schöner, denn als Verhandlung moralischer Standpunkte ist The Devil's Advocat denn auch als guilty pleasure vor dem Herrn - der Finsternis.

Freitag, 2. August 2013

Room 237 (Rodney Asher, USA 2012)

"What is in Room 237?" Auf diese Frage Dannys, des kleinen Jungen mit den hellseherischen Kräften in Stanley Kubricks The Shining von 1980, gibt Scatman Crothers eine denkbar unbefriedigende Antwort: "Nothing, there ain't nothing in Room 237. But you ain't have no business goin' in there anyway, so stay out!"
Auch Kubricks Film gibt auf die Frage, was es mit Raum 237 des Overlook Hotels auf sich hat, letztlich keine genaue Antwort. Was immer es ist, das in diesem Raum und von diesem Raum aus sein Unwesen treibt, es hat mit dem Tod zu tun, mit Sexualität und - irgendwie - mit der Vergangenheit - und offensichtlich bringt es Familienväter dazu, auf ihre, nun ja, Liebsten mit der Axt loszugehen. Und natürlich - schließlich ist The Shining ein Horrorfilm - will es raus und - was vielleicht noch schlimmer ist - Danny, sein Vater Jack (Torrence/Nicholson), wir Zuschauer wollen rein.
"What is in The Shining?" So könnte man die Frage zusammenfassen, der Regisseur Rodney Asher in seiner Dokumentation Room 237 nachgeht. Mögliche Antworten erhält er von fünf fanatischen Exegeten des Films, die in ihm allerlei mehr oder minder versteckte Anspielungen, Botschaften und Subtexte gefunden haben wollen. Nach diesen Theorien gehe es in  The Shining wahlweise um den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern ("The tide of terror that swept America," die das Filmplakat verkündet), den Holocaust oder - wie unoriginell! - nur um Sex. Einer der Interviewten meint im Film einen Stinkefinger in Richtung Stephen King zu entdecken, der die Romanvorlage schrieb und Kubricks Adaption nicht mochte, und ein anderer - sicherlich das Highlight! - will Hinweise darauf gefunden haben, dass die Bilder der Mondlandung eine Fälschung waren. Wobei er mehrfach betont, dass nicht die Mondlandung an sich eine Lüge sei, sondern eben "nur" die übertragenen Bilder inszeniert waren - und zwar von Stanley Kubrick, der diese Geschichte nun - elf Jahre später - in The Shining ein- und ver-arbeitete.
Einiges davon macht - tatsächlich - Sinn, Anderes macht zumindest Spaß (wobei die Komik, was die interviewten Verschwörungstheoretiker anbelangt, sicherlich unfreiwillig ist, bei den Machern des Films bin ich mir da hingegen nicht so ganz sicher), wieder Anderes - und das ist wohl am interessantesten - macht Stutzen. Natürlich kann man es als schlichte Paranoia abtun, den Anschlussfehlern eines Films tiefere Bedeutung beizumessen, aber muss denn die Häufung solcher Fehler bei einem Regisseur, der berüchtigt war für seinen Perfektionismus, nicht doch überraschen? Könnte es nicht zumindest sein, dass das Verschwinden von Stühlen, Veränderungen im wohl berühmtesten Teppichmuster der Filmgeschichte oder eine auf mysteriöse Weise ihre Farbe wechselnde Schreibmaschine, die bei einem ersten "normalen" Sehen des Films im Kino wohl tatsächlich niemandem auffallen dürften, ohne unbedingt auf tiefere Bedeutungen hinauszuwollen, ein Spiel mit dem Unbewussten des Zuschauers treiben sollen? Dass er durch solche Diskontinuitäten des inszenierten Raumes verunsichert werden soll, ohne es bewusst mitzubekommen? 
Illustriert werden die als Voice-Over vorgetragenen Theorien durch eigens annimierte Sequenzen, Ausschnitte aus sämtlichen Stanley Kubrick- und unzähligen anderen Filmen und natürlich immer wieder aus The Shining. The Shining im Kino, im Fernsehen, auf VHS, DVD und blu-ray. The Shining in Zeitlupe und Einzelbildanalyse. The Shining in Animationen und Grafiken, die zum Beispiel die genauen Wege, die Danny auf seinem Go-Kart durch die Flure des Overlooks fährt, und die mit der damals vollkommen neuen - und von ihrem Erfinder Garett Brown selbst geführten - Steadycam aufgenommen wurden. The Shining in einer doppelten Projektion, bei der der Film, übereinandergelegt, vorwärts und rückwärts abläuft. Faszinierend ist das vor allem dann, wenn die verschiedenen Interpreten die selbe Einstellung, ja, mitunter das selbe Einzelbild des Films im Hinblick auf verschiedene Details ganz unterschiedlich deuten. So entstehen verschiedene Layer, die sich über die Filmbilder legen und sie zu schier endlos mit Bedeutungen aufgeladenen - oder zumindest: mit Bedeutungen aufladbaren - Objekten machen und dadurch die Lust wecken, ganz genau hinzusehen.
Letztlich funktioniert Room 237 wohl wie ein üppiges Büfett, in dem sich jeder nehmen kann, was ihm schmeckt und den Rest liegenlässt. Allerdings ist dieses Büffet, das ist das Manko des Films, eben so überladen, dass sich schnell Übersättigung einstellt, einen die Flut der Bilder und Theorien zeitweise etwas überfordert und man, zumindest beim ersten Sehen (aber: gerade um das mehrfache und immer wieder Sehen von Filmen geht es ja auch), einiges wohl auch schlicht übersieht.
Das Filetstück des Films ist für mich eine psychoanalytische Deutung, die sich auf die Wiederkehr des Verdrängten bezieht, wohl eines der Themen im Horrorfilm schlechthin. The Shining finde dafür, so die Interpretation, in Dannys Vision von dem Blut, das sich aus den geschlossenen Fahrstuhltüren in den Flur ergießt, ein beeindruckendes Bild. Die geschlossenen Türen stünden hierbei für die Widerstände des Bewusstseins, die das Verdrängte schließlich nicht davon abhalten könnten, sich seinen Weg "nach Draußen", an die Oberfläche des Bewusstseins wie des Bildes zu bahnen. Interessant wird diese Deutung durch den historischen Bezug zu den Indianern, die ja tatsächlich - und nicht ein mal sonderlich latent - durchs Overlook Hotel zu spuken scheinen. Daraus ergeben sich für mich Bezüge zu einem anderen drei Jahre zuvor entstandenen amerikanischen Horrorfilm, den ich sehr verehre und über den ich hier schon einmal kurz geschrieben habe: Wes Cravens The Hills have Eyes. Die Bösen, mit denen es eine im Wohnmobil durch die Wüste New Mexicos reisende Familie hier zu tun bekommt, leben in Höhlen, sehen aus und sprechen wie "degenerierte" Hinterwäldler und tragen "Indianerschmuck". Dieses Zeichengemisch macht sie zum/zu den Verdrängten in mehrerer Hinsicht. Einerseits stellen sie als "Höhlenmenschen" eine - im Hinblick auf die amerikanische Familie - Vorstufe im zivilisatorischen Prozess dar und ihre kannibalischen Gelüste wie ihre sadistische Gewalt, das, was im "zivilisierten" Menschen durchaus noch vorhanden, nur eben verdrängt ist. Dann sind sie aber auch die territorial Verdrängten der Vergangenheit - die Indianer, denen man ihr Land weggenommen hat, bzw. die um ihres Landes Willen ermordet wurden - und der Gegenwart - die Marginalisierten der amerikanischen Gesellschaft der Siebziger. Bei Craven wie bei Kubrick bekommt das Freudsche Konzept damit eine historische Komponente und bei beiden steht am Ende ein (erneuter) Gewaltausbruch des weißen Mittelklasse-Amerikaners.
Dass Room 237 Lust macht, solche Bezüge zu entdecken, zu vergleichen, eben, wie gesagt, genau hinzusehen, dass er von der Lust am Kino und seiner Auslegung handelt (wenn auch nicht unbedingt in einer noch "gesunden" Form) und gleichzetig Lust auf das Kino macht, ist - relativ unabhängig davon, wie viele der hier aufgestellten Theorien und Bezüge nun absoluter Humbug sind - die große Stärke dieses Films, die über einige Schwächen gerne hinwegsehen lässt.





Room 237 startet am 19. September 2013 in den deutschen Kinos.