Freitag, 29. November 2013

Tore tanzt (Katrin Gebbe, D 2013)

Die erste Szene: Tores Taufe im Fluss. Das Initiationsrtual für einen Gestrandeten, über dessen Vorgeschichte wir nicht viel erfahren müssen, um zu verstehen, dass er in der Welt kaum einen Platz hatte, bevor er ihn hier findet. Bei den Jesus-Freaks. Deren Milieu skizziert der Film zunächst ziemlich befremdlich, zumindest für jemanden wie mich, der sich mit dieser Bewegung nie befasst hat, aber irgendwie auch recht liebenswürdig. Ein buntes Gemisch aus Zeichen verschiedener Jugendkulturen mit etwas antiquiertem Anti-Establishement-Duktus - also Iros, Dreadlocks oder Glatzen, zerschlissene Base-Caps und T-Shirts, mit Nieten besetzte Lederjacken und ein bunt bemalter alter VW-Bus - und christlichen Symbolen und Inhalten. Grundsympathisch zunächst auch die Hauptfigur (gespielt von Julius Feldmeier). Einer, der an etwas glaubt, Gewalt strikt ablehnt und sich für Geld nicht interessiert. Dass das woran Tore glaubt eine ziemlich fundamentalistische Auslegung des Christentums ist, wird bald zum Problem - vor allem für ihn selbst. Zufällig lernt Tore auf einer Autobahnraststätte Benno (Sascha Alexander Gersak) kennen. Als dessen Auto nicht startet, gelingt es Tore und seinem Kumpel Eule (Daniel Michel) es durch Anrufungen Jesu' in Gang zu bringen. Tore lädt Benno zu einer Party der Freaks ein. Als Tore dort einen epileptischen Anfall erleidet, nimmt Benno ihn mit zu sich in die Laube, in der er gemeinsam mit seiner Frau Astrid (Annika Kuhl), seiner fünfzehnjährigen Tochter Sanny und ihrem kleinen Bruder Denis (Til Theinert) lebt. Zu Beginn meint Tore noch, Benno habe der Himmel geschickt, immer mehr offenbart sich jedoch die sadistische Natur seines vermeintlichen Wohltäters. Was mit kleinen Gemeinheiten Bennos gegen Sanny im Auto-Scooter beim Familienausflug beginnt, führt bald zu handfester Gewalttätigkeit gegen Tore. Bis dahin, dass er von Benno als eine Art Sklave gehalten wird, bei immer weniger Nahrung und unter immer grausameren physischen und psychischen Torturen. Tore jedoch bleibt nicht nur bei seinem Peiniger, er kehrt sogar, als Sanny, seine einzige Verbündete in der Familie, ihn zu retten versucht, immer wieder zu ihm zurück. Fest entschlossen, der Grausamkeit Bennos Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe entgegen zu setzen.
Regie-Debutantin Katrin Gebbe unterteilt ihren Film, übrigens der einzige deutsche Beitrag zum diesjährigen Film-Festival in Cannes, in drei Kapitel, die mit den drei theologischen Tugenden überschrieben sind: Glaube, Liebe, Hoffnung. Während sich das erste noch tatsächlich mit Tores christlichem Glauben auseinandersetzt, scheinen die anderen beiden eher mit ursprünglich-religiöser und gegenwärtig-"weltlicher" Bedeutung der Worte zu spielen - und damit ein Stück weit falsche Fährten zu legen. Die Titel-Einblendung "Liebe" erscheint genau dann, als sich eine Beziehung zwischen Tore und Sanny anzubahnen scheint. "Hoffnung", als Tore, nach einem Rettungsversuch durch Sanny, mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus erwacht. Immer wieder siegt Tores Glauben über alle Bedürfnisse seines Körpers. Julius Feldmeiers Leistung besteht nicht zuletzt darin, wie er diesen Kampf gegen sich selbst immer wieder in Gestik und Mimik, in Tores gesamtem, zuckendem, zum Schlachtfeld werdenden Körper sichtbar macht. Wenn Tore Eule, relativ zu Beginn, beim Sex erwischt, sieht man, wie viel Angst er vor seinem eigenen Begehren hat. Ebenso später, als Sanny ihn zu verführen versucht. Auch die Wut ob Bennos immer gemeinerer Brutalität sieht man ihm an. Aber: Freaks heiraten zuerst. Freaks halten die andere Wange hin.
Gerade in seiner Drastik, die immer wieder hart an die Grenze des Erträglichen geht, findet der Film zu Wahrheiten über die Dynamiken von Opfern und Tätern in Konstellationen von Gewalt wie der hier gezeigten. In einer der erschütterndsten Szenen zwingen Benno und Astrid, die sich immer mehr zur Mittäterin entwickelt, verschimmeltes Huhn zu essen, das er aus dem Müll "gestohlen" haben soll. Die erste Einstellung zeigt sie von vorne. Tore regelrecht eingeklemmt zwischen den anderen beiden, die das Fleisch abschneiden und ihm in den Mund schieben. Als Tore beginnt freiwillig, seinen Würgereflex unterdrückend, zu essen, kommt der Schnitt und die nächste Einstellung zeigt sie von hinten, im Gegenlicht, nun einfach gemeinsam am Tisch sitzend. An der Stelle, wo das Opfer den Zwang introjiziert hat, sieht das Ergebnis aus, wie eine ganz normale Familien-Szene.
Immer mehr entwickelt sich das Verhältnis von Benno und Tore zu einem Streit zwischen divergierenden Weltbildern. Mehr als um das Ausleben seiner sadistischen Triebe, scheint es Benno darum zu gehen, sein Gegenüber zu brechen, weil er sich von dessen Friedfertigkeit in seinem ganzen Sein bedroht fühlt. Mit allen Mitteln will er verhindern, sich eingestehen zu müssen, dass es etwas jenseits seines eigenen materialistischen, immer auf den eigenen Vorteil, die hemmungslose Befriedigung der eigenen Bedürfnisse bedachten Verhaltens gibt. Die Dynamik, die daraus entsteht, dass Tore immer weiter dagegen hält, muss sich also bis zum bitteren Ende weiter hochschaukeln.
Der große Clou und die größte Zumutung des Films besteht darin, wie einen Gebbe zur Identifikation mit ihrem Protagonisten zwingt. Tore hält nicht nur seine Epilepsie für Eingaben des heiligen Geistes, er macht sich auch durch sein Schweigen, sein Aushalten immer mehr zum Komplizen aller möglicher Formen der Gewalt, deren Opfer nicht nur er ist. Immer wieder möchte man ihn als Zuschauer wachrütteln, entziehen kann man sich ihm trotzdem nicht. Tore tanzt ist Tores Film. Seine Passionsgeschichte.
In einer Szene hören wir Tore aus dem Off sagen: "Der Herr blickt vom Himmel auf die Erde herab. Seine Sonne lässt er scheinen auf gute Menschen wie auf böse." Dazu der helicopter shot der parzellierten Welt der Laubenkolonie, die zum Ort seines Martyriums wird. Tores Worte bemächtigen sich der Bilder, die seine Weltsicht affirmativ zu illustrieren scheinen. Durch den Film ziehen sich Bilder von Bäumen und Gräsern, durch die der Wind streicht, vom Sonnenlicht, das sich durch die Blätter bricht, von einem Flugzeug am Abendhimmel, von Tropfen, die an der Regenrinne abperlen, von Dämmerung und Zwielicht. Das sind nicht einfach Stimmungsbilder, die die denkbar triste und gemeine Welt des Films auflockern sollen. Vielmehr scheint die Kamera in der Natur göttliche Zeichen zu suchen, wie sie Tore im Verlauf der Ereignisse sucht. (Im Gegensatz dazu dann: das Bordell, in dem Tore zur Prostitution gezwungen wird, als wahrlich höllischer Ort in Szene gesetzt.) Auch hier geht Gebbe konsequent bis zum äußersten, wenn am Ende tatsächlich Tore zum Märtyrer wird, der sich für das Leben anderer aufopfert.
Eine Zumutung ist das. Eine, wie sie sich das deutsche Kino gerne öfter leisten dürfte.

Tore tanzt läuft seit 28. 11. 2013 im Verleih von Rapid Eye Movies in den deutschen Kinos.


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