Mittwoch, 30. Oktober 2013

Movie of the Week 6: Der Skorpion (Dominik Graf, D 1997)




"Ich bringe die Kunst zum Volk," sagt Daria, Porno-Darstellerin, über ihren letzten Film: "Der fickende Holländer", (wohl recht frei) nach Motiven von Richard Wagner. So ähnlich macht das auch Dominik Graf. Er bringt, über den Umweg des "Drecks" der Bahnhofskinos - Trash, Exploitation, Sleaze, drogenschwangere Psychedelik -, große Kunst ins deutsche Fernsehen. Gedreht hat er dafür auf 35mm, zu einer Zeit als Video bei Fernsehproduktionen längst Standard war. Rausgekommen ist dabei ein unglaublich frenetischer Film. Ein 100-minütiger Exzess, dem zu viel niemals genug ist. Hier ist kein Plotpoint zu abstrus, keine Wendung zu melodramatisch. Kein Schwenk zu gewagt, keine Kamera-Perspektive zu skurril. In teilweise stark überbelichteten Bildern malt Graf eine kalte Welt der Krankenhausflure und Flughafenhallen. Dazu wummern die Bässe. In eine Eislaufhalle, ganz grau in blau, setzt er dickaufgetragenen orangene Tupfer (die Sitze, Darias Schal, ein Schild an der Wand) wie eine Spur. Nur: wo führt sie hin? (Eine Szene aus der Produktiongeschichte des Films, die ich gerne gesehen hätte: Bei der Abnahme des Films durch die Verantwortlichen beim ZDF soll, nach einigen Momenten betretenen Schweigens, Graf darauf hin gewiesen worden sein, dass da noch einige Licht- und Material-Fehler zu beheben seien.) Der Skorpion löst - im Wagner-Porno, im abgeschmacktesten aller Michelangelo-Zitate als Abschlussbild - nicht nur "Hoch - und Niedrig-Kultur" in einander auf, auch die Gattungsgrenzen scheine außer Kraft gesetzt. Ein Genre-Film, natürlich. Aber: welches Genre eigentlich? Die Geschichte vom Brutalo-Bullen und seiner dysfunktionalen Familie führt Graf nicht einfach im Selbstjustiz-Drama zusammen, er stellt den Selbstjustiz-Thriller auf den Kopf, lässt das Vater-Sohn-Melodram Purzelbäume schlagen und beides schließlich mit Wucht aufeinanderprallen. Vater und Sohn finden schließlich als Komplizen zueinander. Auch die Klischees des Drogen-Films (wir erinnern uns: die Neunziger, Techno, Ecstasy) bedient er mit großer Lust, befreit sie jedoch so sehr von jeder didaktischen Absicht, dass es scheint als hätten wir die Bilder vom Club mit seinen blinkenden Spot-lights, vom berauschten Fick in der Hängematte in verschwommenen Subjektiven noch nie gesehen.
Das dialektische Kunststück, das Graf gelingt, besteht darin, dass er die Figuren und ihre Konflikte in dieser absurd künstlichen Welt ernst nimmt. Dass er gerade mit seiner exaltierten Stilisierung, mit seinem Mittelfinger an ein allzu biederes Realismus-Verständnis, an einen allzu einfachen Moralismus ein Stück deutsche Wahrheit in deutsche Wohnzimmer bringt.      

Montag, 28. Oktober 2013

R.I.P. Lou Reed


Now he walks on the wild side - till eternity...

Peckinpah-Notizen 1: The Wild Bunch (1969)


... von Skorpionen und Ameisen




Am Anfang die Skorpione im Todeskampf im Ameisenhaufen und die Kinder, die mit Verzückung, berauscht von der Grausamkeit, zusehen, schließlich Stroh über dieses erste Schlachtfeld des Films werfen und alles, die Ameisen und die Skorpione, in Flammen aufgehen lassen. Zum Schluss dann, wie ein Ameisenhaufen, das berühmt-berüchtigte Massaker, der wohl ausuferndste von Peckinpahs  blut- und blei-gesättigten Zeitlupen-Exzessen, der auch nach 45 Jahren seine verstörende Wirkung nicht verfehlt. Eine Szene, die die Gewalt sicherlich in damals nicht bekanntem Maße zelebriert, aber dabei gerade nicht komensurabel macht. Man kann sich den ganzen Film, der dazwischen liegt, vorstellen als die zweieinhalb Stunden lang ausgewälzte Agonie einiger Skorpione in einer Welt, die in den 1910ern längst den Ameisen gehört. Das Faszinierende, das Großartige daran ist, wie einen der Film in die Identifikation mit diesen Männern zwingt, die wohl alles andere als gut sind, aber doch in der beschriebenen Welt as good as it gets. Peckinpah empfindet große Empathie für diese alternden Outlaws, die vom Pferd fallen, die wie Kinder um ein Automobil herumstehen, und ungläubig den Geschichten lauschen, dass diese Dinger inzwischen auch schon fliegen können. Diese Männer, die nicht mehr in ihre Zeit passen, und auf die nichts mehr wartet außer der Tod. Jenseits des Ehrenkodex ihres Männerbundes, dessen natürlichste Art der Kommunikation das schallende Gelächter ist, gibt es für Peckinpah nur noch Niedertracht und Besitzgier. Natürlich muss man diesen Konservativismus nicht mögen. Auch kann man sich mit Recht daran stören, dass Peckinpah jungen mexikanischen Prosituierten keineswegs mit der gleichen Sympathie begegnet wie alt gewordenen amerikanischen Schwerverbrechern. Mir scheint jedoch, dass jede - berechtigte! - Ideologiekritik am Kern dieses Meisterwerks vorbeigeht. The Wild Bunch ist ein Film, der tiefempfundene sehr ehrliche Empathie für Skorpione hegt.


Mittwoch, 23. Oktober 2013

The Quick and the Dead (Sam Raimi, USA 1995)

Die naheliegendste Art von der Regie-Karriere Sam Raimis zu erzählen, ist als Geschichte zweier Trilogien. Raimi war gerade zwanzig als er 1981 mit einigen Freunden und einem mühselig zusammengestotterten Mini-Budget von etwa 400.000 Dollar in einer Waldhütte den Film drehte, der sich zu einem Riesenerfolg und einem der Kultfilme unter Splatter-Aficionados bis heute entwickeln sollte: The Evil Dead. Gut zwei Jahrzehnte später, 2002, kam Raimi mit Spider-Man endgültig in der Sphäre hundertmillionenschwerer Blockbuster an, wurde zu einem global player der Filmindustrie. Den beiden Filmen folgten jeweils zwei Fortsetzungen.
In dieser Erzählung werden Raimis andere Filme, vor allem die aus den Neunzigern, also zwischen Army of Darkness (1992), dem Abschluß der Evil Dead-Trilogie, und Spider-Man, in denen er sich mit mittelgroßen Budgets an verschiedenen Genres versuchte, zu bloßen Zwischenstationen auf dem Weg von den backwoods von Tennesse in die Multiplexe dieser Erde. Kaum mehr als Fußnoten in der Filmgeschichte. Schade daran ist, dass sich eben in dieser Phase seines Schaffens einige seiner interessantesten und schillerndsten Filme finden. Etwa der Neo-Noir-Thriller A Simple Plan, ein düsteres morality play über die Katastrophe, die vier Millionen gefundene Dollars im Leben einiger Menschen anrichten, oder eben sein (Spät-?, Post-?, Neo-?)Western The Quick and The Dead von 95.
Ellen (Sharon Stone) kehrt zurück in eine Kleinstadt, die der Revolverheld John Herod (Gene Hackman) mit eiserner Hand regiert. ("He gets fifty cents of every dollar in this town." "What's the town get?" "It get's to live.") Herod veranstaltet einen Wettkampf, bei dem jeweils zwei Männer im Duell gegeneinander antreten. Wer zuletzt noch steht, hat gewonnen und kommt in die nächste Runde. In dieser quick drawing competition vertreten die Beteiligten sehr verschiedene Interessen, trachten danach, persönliche Rechnungen zu begleichen. Herods Sohn Fee, genannt Kid (ein blutjunger, herrlich arroganter Leonardo DiCaprio) will endlich die Anerkennung seines Vaters gewinnen. Cort (zähneknirschend: Russell Crowe) will nichts mit ihr zu tun haben, als einstiger Komplize von Herod hat er der Gewalt abgeschworen und versucht sich als Priester. Die Bevölkerung der Stadt will sich ihres Tyrannen entledigen. Und Ellen will Rache an dem Mann nehmen, der ihre Familie zerstörte.
Filmhistorischer Referenzpunkt ist zunächst der Italo-Western im Allgemeinen und Sergio Leone im Besonderen. Raimi übernimmt viele seiner gängigen Motive. Die - auch intradiegetisch - als Spektakel inszenierte Gewalt. Den Sadismus der - meisten - Figuren. Den grausamen Patriarchen und das Sinnen auf Rache an ihm, das die - hier allerdings weibliche - Hauptfigur antreibt. Auch stilistisch ist dieser Einfluss eindeutig zu erkennen, wenn etwa die Duelle in Nahaufnahmen von Gesichtern und der Rathausuhr, deren Schlag das Zeichen zum Ziehen gibt, aufgelöst werden. Exzessiv wird auf Gesichter gezoomt und immer wieder zeigt die Kadrierung nur leinwandfüllende Augenpartien, eine Art der Einstellung, die seit Leone "Italienische" genannt wird. Viele der Figuren werden zunächst als Schatten eingeführt. Sharon Stone im Gegenlicht, die Sonne, genau über ihrem Kopf, scheint durch das Loch, das eine Kugel in ihrer Hutkrempe hinterlassen hat. Endlos lang fährt die Kamera am Schatten des in der Saloon-Tür stehenden Lance Henriksen entlang, dann an seinem Körper empor. Schließlich Gene Hackman, dessen Gesicht ebenfalls im Schatten liegt, wenn er den Saloon mit zwei von seinen Männern betritt und ein kalter Windhauch mit ihm durch den Raum zu gehen scheint. (Wenn sich die von Henriksen gespielte Figur wenig später als unwichtig, als Betrüger erweist, lässt Raimi den Zuschauer durch ihren spektakulären Auftritt geschickt auf deren Täuschung hereinfallen.) Nicht zuletzt ist da die Angewohnheit, durch die Löcher zu filmen, die Kugeln in Körper oder Köpfe reißen. Dass die Handlung weder zeitlich noch räumlich genauer verortet wird, hat Methode. Referenz ist eben keine historische Realität, sondern die Filmgeschichte. Der Wilde Westen wird bei Raimi endültig zur Kenntlichkeit entstellt als das, was er wohl immer schon war: ein Konglomerat popkultureller Mythen. Eine seit den europäischen - und später auch amerikanischen - Western der Sechziger und Siebziger ins "Dreckige" gewendete Phantasie-Welt voller schlechter Zähne und Tischmanieren, zerschlissener Sträflingskleidung und schmutziger Gesichter, Staub und Gewalt. Ein Comic-Heft.
Wo Raimi aber einerseits das Comic-Hafte, das schon in den Spaghetti-Western nicht übermäßig latent vorhanden war, gründlich an die Oberfläche kehrt, haucht er andererseits, seinen in groben Strichen gezeichneten Comic-Figuren nach und nach Leben ein. Selbst Herod ist nicht nur böse, handelt nicht nur aus Sadismus und Gier wie etwa die Schurken, die Fernando Sancho gerne in B-Italo-Western spielte, sondern wurde, wie alle anderen, durch eine zerrissene Biographie zu dem gemacht, was er ist. Macht der Film zunächst kein großes Aufhebens um seine weibliche Hauptfigur, so muss sie sich im Folgenden immer wieder mit losem Mundwerk, Fäusten und Colt in einer Männerdomäne behaupten, die in ihr kaum mehr sieht als ein passives Sex-Objekt. Wo ihr die Emanzipation gelingt, bleiben der Afro-Amerikaner und der Indianer, die im Wettbewerb antreten jedoch karikatureske Nebenfiguren. So hält auch das Weltbildliche und Allegorische wieder Einzug in Raimis Westen, das schon in den amerikanischen Genre-Vertretern der frühen Sechziger, beispielsweise in John Fords Spätwerk, reichlich ramponiert erschien und durch die Schwemme europäischer Western ab Mitte der Dekade - zunächst - gänzlich getilgt wurde. Das Finale setzt durch einige plot-twists zeitweilig die Dramaturgie des Rachefilms außer Kraft, nur um ihr schließlich mit umso größerer Wucht zu ihrem Recht zu verhelfen. Wo es aber im Italo-Western vorwigend um die Zerstörung alter Mythen ging, darum, mit großer Lust kaputt zu machen, wie seine linken Bewunderer wohl sagen würden, was kaputt gemacht gehört, bietet das fröhliche In-die-Luft-Sprengen der alten Ordnung hier auch die Grundlage zur Errichtung einer neuen.


Movie of the Week 5: Alambrista! (Robert M. Young, USA 1977)



Zu Beginn trifft Roberto, gerade Vater geworden, aus der Not heraus, aber doch betont nüchtern eine Entscheidung. In die USA möchte er gehen, um seiner Tochter eine Schulbildung finanzieren zu können, damit seine Familie einmal etwas anderes zu Essen haben soll, als die ewigen Kartoffeln, die das einzige sind, was er sich mit der harten Arbeit mit dem Pferde-Pflug auf dem Feld in Mexiko finanzieren kann. Seine Mutter fleht ihn an, nicht fortzugehen, befürchtet, er werde nie wiederkommen, wie sein Vater, der vor vielen Jahren ebenfalls zum Arbeiten in Richtung Norden ging. Young erzählt das ohne großes Pathos, aber mit viel Empathie. Auf der Heckscheibe des Busses, der Roberto zur Grenze bringen wird, durch die wir seine Frau mit dem Kind auf dem Arm zum letzten Mal sehen, prangt ein Davidstern. Ein gelobtes Land wartet dann aber gerade nicht auf ihn. Sondern ein ebenso gefährliches wie entbehrungsreiches Leben. Noch mehr Feldarbeit, die für ihn durch die Mechanisierung nicht einfacher wird. Als Tagelöhner erntet Roberto Tomaten, Erdbeeren, Trauben, Salat und Gurken. In ständiger Angst vor den Einwanderungsbhörden, la migra, und der "Güte" und den Launen seiner Arbeitgeber hilf- (weil: rechts-)los ausgeliefert.


1977 war Alambrista! die erste Auseinanderstzung mit den Lebens- und Arbeits-Verhältnissen illegal eingereister Mexikaner im US-Kino. Umso erstaunlicher ist die gänzlich ideologiefreie behutsame Art, wie der Film sein Thema behandelt. Das gelingt unter anderem durch die Konzentration auf seine Hauptfigur, deren Schicksal für das von Millionen steht, und die doch nie zum bloßen Repräsentanten, zum Typ verkommt. Das Geschehen wird konsequent aus der Perspektive Robertos gezeigt. Er ist nicht der Fremde, der Andere, sondern eben die US-amerikanische Lebenswelt sieht in seinem Blick - nicht nur bei den  Ritualen eines freikirchlichen Gottesdienstes - ziemlich befremdlich und sonderbar aus. Auch das Unrecht der Ausbeutung und Instrumentalisierung der "Illegalen", wird ganz aus der Perspektive Robertos gezeigt. Nach seiner "Rückführung" durch die Behörden nach Mexiko, überquert er abermals die Grenze mithilfe einiger "Coyotes", die die Arbeiter gezielt als Streikbrecher auf einer Plantage einsetzen - und sich dafür noch bezahlen lassen: die 200 Dollar für die Kosten des Menschenschmuggels werden ihnen von ihrem Lohn abgezogen.  

"El alambre" bedeutet im Spanischen der Draht, "Alambrista" heißt Seiltänzer und ist zugleich ein Slangbegriff für die undokumentierten mexikanischen Einwanderer. Ein einziger Drahtseilakt ist denn auch dieser Film, der manchmal schlingert, aber doch nie fällt, die Lebensbedingungen seines Protagonisten ungeschönt darstellt, ohne in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu kippen. Das Tragische und das Komische gehen hier fließend ineinander über oder liegen doch nur einen harten Schnitt voneinander entfernt. Neben dem Anprangern der Verhältnisse steht die zutiefst humanistische Vorstellung von einer Verbundenheit zwischen den Marginalisierten dieser Erde - ob braun oder weiß, ob mit Green Card oder ohne. Dass Young vom Dokumentarfilm kommt, sieht man Alambrista!, seinem ersten abendfüllenden Spielfilm, durchaus an. Die Besetzung besteht aus professionellen Schauspielern und Laien. Wenn Roberto unmittelbar nach seiner ersten Überquerung der Grenze in ein notdürftiges Lager von illegalen Einwanderern kommt, werden diese von illegalen Einwanderern "gespielt", wobei die Regie-Anweisung, so berichtet Co-Produzentin Sandra Schulberg im Gespräch nach dem Film im Zeughauskino, lautete, zu tun, was sie immer tun. Gerade in seiner Darstellung der liebevollen Begegnungen, während Robertos Odyssee durch die südliche USA, hat der Film aber auch keine Berührungsängste mit dem Genre-Kino. Wenn Roberto auf Joe trifft, Mexikaner wie er, allerdings inzwischen mit Englischkenntnissen und Arbeitserlaubnis, wird der Film zu einem buddy movie. Joe bringt ihm, in einer der wunderbar witzigen Szenen, von denen es gar nicht wenige gibt, bei, con cofianza, mit Selbstvertrauen also, zu gehen und in einem US-amerikanischen Café immer "ham, eggs and coffee" zu bestellen. Wenn er die arme alleinerziehende Kellnerin Sharon kennenlernt, bahnt sich mit der fragilen Romanze eine ebenso fragile romantische Komödie an. Wenn diese Episoden dann jeweils sehr abrupt enden, spielt Young nicht selbstverliebt mit den Erwartungen des Zuschauers, sondern lässt die bedrückende Realität über die Erlösungversprechen des Genres triumphieren. Die migra gewinnt gegen die Liebe. Doch ganz am Ende gibt es doch Licht am Horizont, ohne dass die Anklage dieses Films dadurch entkräftet werden würde.
Der würdige und wundervolle Abschlussfilm der schönen Reihe "Cinema of Outsiders" im Zeughauskino zeigt, wie ehrlich, herzlich, humor- und hoffnungsvoll politisches Kino sein kann. (Aber leider viel zu selten ist.)



Mehr zur Reihe kann man hier und hier lesen.

Montag, 21. Oktober 2013

Stein der Geduld (Atiq Rahimi, F, D, Afghanistan 2012)


Die Frau (Golshifteh Farahani) pflegt ihren Mann (Hamid Djavan), der mit einem Genickschuss im Koma liegt. Die zwei Töchter sind die meiste Zeit im Keller, denn draußen in der Stadt herrscht Krieg. Beständig spricht die Frau mit dem Mann, der nicht reagieren, aber sie wohl hören kann. Zunächst scheint der Patriarch, auch in derart gelähmter Form, noch Macht über sie zu besitzen. Sie bittet ihn, der doch nicht antworten kann, das Haus verlassen zu dürfen. Nach und nach jedoch, wird sie immer selbstbewusster. Beginnt sich zu öffnen, zu sprechen über die Enttäuschungen und Entbehrungen ihres Ehelebens, über Selbstbefriedigung und sexuelle Fantasien. Entfaltet vor ihm die Geschichte ihrer Unterdrückung, die sich von der Herkunftsfamilie nahtlos in ihrer Ehe fortsetzte.
Regisseur Atiq Rahimi, der hier seinen eigenen Roman verfilmt, habe mit seinem Film, so das Presseheft, "den afghanischen Frauen eine Stimme [ge]geben." Das klingt zunächst einmal nach der Art von guten Absichten, die eher ungeeignet sind, um gute Filme aus ihnen zu machen. Das faszinierende an Rahimis Film, an dem es trotzdem noch einiges auszusetzen gibt, ist dann allerdings, wie er immer wieder bestimmte Systeme evoziert, um sie schließlich radikal zu unterwandern und umzuwerten - nicht zuletzt eben das, eines gut gemeinten, auf den westlichen Markt abzielenden Weltkinos.
Zum einen liegt der Geschichte der persische Mythos vom Stein der Geduld zugrunde, der alle Geständnisse und Geheimnisse eines Menschen in sich aufnimmt, bis er so vollgesogen ist, dass er zerspringt. Es bedarf aber, zum andern, wohl auch keines übergroßen interpretatorischen Ehrgeizes, um in dieser Situation, in der die Frau ihre gesamte Biographie durch Versprachlichung aufarbeitet, um sich schließlich von ihrem Leid zu befreien, Parallelen zu einem westlichen therapeutischen setting zu erkennen. Die Vorstellung von der Sprache als heilender Kraft liegt ja auch der talking cure der Psychoanalyse zu Grunde. An Bildern für den Phallus, für seine Aneignung durch die Frau und die Kastration herrscht hier dann auch wahrlich kein Mangel. In einem der Flashbacks, die den Film durchziehen, berichtet die Frau von ihrem Vater und seiner scheinbar einzigen Leidenschaft: Den Wachteln, die er hält, um sie in Kämpfen antreten zu lassen. Zuneigung scheint dieser Mann nur für die kleinen Vögel zu empfinden, während er Frau und Kinder regelmäßig verprügelt, vornehmlich dann, wenn seine Wachteln einen Kampf verloren haben. Mit eindeutig masturbatorischen Gesten ahmt Farhani nach, wie er die Vögel liebkoste. "Als Kind," sagt sie, "dachte ich immer, Männer hätten eine Wachtel zwischen den Beinen." Wenn sie eine dieser Wachteln dann der Katze zum Fraß vorwirft, ist das nicht nur eine überdeutliche Kastrationsmetapher, sondern auch ein erster Akt der Auflehnung gegen die phallische Ordnung. Wie er den persischen Mythos umdeutet, so wird auch die Psychoanalyse umgekehrt. Es geht nicht mehr, wie bei Freud, darum, die verdrängten Triebe in den Griff zu bekommen, die sich in allerlei Krankheitsbildern den Weg zurück an die Oberfläche des Bewusstseins bahnen, sondern im Gegenteil darum, das weibliche Begehren von der - zuerst äußerlichen, aber auch durch Introjektion übernommenen - Repression zu befreien. Wo (patriarchalisches) Über-Ich war, soll (weibliches) Ich werden.
Eine Verbündete findet Farahani in ihrer Tante (Hassina Burgan), die als Prostituierte arbeitet. Die Prostitution wird hier gerade nicht als weiterer Stein in der Mauer der Unterdrückung der Frau, sondern als Instrument zu ihrer Befreiung dargestellt. Im Interview sagt Rahimi, er bewundere Prostituierte für "ihren Mut, ihre Art, die Männer durch ihren Körper zu dominieren. Ihnen gegenüber werden die Männer zu Kindern."
Das trifft auch und besonders auf den jungen Soldaten zu, mit dem Farahani im letzten Drittel des Films eine Affäre eingeht. Gegenüber ihm und einem älteren Soldaten, die ihr Haus kontrollieren, behauptet sie, sie sei Prostituierte, um so einer Vergewaltigung zu entgehen. Während der andere sich tatsächlich angewidert von ihr abwendet, kehrt der jüngere später zu ihr zurück - mit Geld. Als sie ihn zunächst abweist, vergewaltigt er sie. Diese Vergewaltigung ist jedoch gerade eine Fortführung des phallischen Versagens, dass sich durch den Film zieht.
Stereotype Rollenzuweisungen sind dabei nur ein Problem von Stein der Geduld. Außerdem wirkt der Film bisweilen ziemlich überladen. Der Verzicht auf Eigennamen und genaue geographische Verortung des Geschehens soll verdeutlichen, dass sich diese Geschichte überall in der arabischen Welt zutragen könnte. Rahimi bürdet seiner Protagonistin die ganze Last der Unterdrückung der Frau in islamistischen Regimen auf. Die trägt es zunächst mit bemerkenswert durchgehaltener Leidensmiene (umso schöner dann allerdings, wie sich gegen Ende auch ihre Befreiung von ihren Zügen ablesen lässt.) Auch ist der Film in seiner Inszenierung keineswegs so homogen, wie er es in der Poesie seiner State of the Arthouse-Bilder gerne wäre. So gibt es eine sehr gelungene Szene gegen Anfang, in der Farahani, eine gespentische Erscheinung in ihrer Burkha in der gespentischen Umgebung der zerbombten Stadt, mit ihren Töchtern zur Apotheke geht. Unweit von ihnen schlagen Granaten ein. Nur wenige Augenblicke sehen wir, wie die Frau ihre Kinder in Sicherheit zu bringen sucht. Dann kommt der Schnitt und die Apotheke ist erreicht, ganz so, als wäre nichts geschehen. Hier gelingt es, zu zeigen was der Krieg für Menschen in einem Kriegsgebiet bedeutet: ein schrecklicher bedrohlicher Alltag, aber eben doch: Alltag. Wenn später jedoch erneut Kriegshandlungen zu sehen sind, setzt der Film wieder auf höchstmögliche Dramatisierung durch altbekannten Wackelkamerarealismus.
Was den Film, trotz dieser Schwächen, rettet, ist, dass die Handlung nicht, wie es die Bilder zumindest teilweise tun, Zuflucht beim guten Geschmack sucht. In der Unnachgiebigkeit mit der die Frau ihren wehrlosen Mann mit dessen eigenem Verhalten konfrontiert, darin, wie immer wieder gezeigt wird, wie wenig die Männer die Frauen befriedigen können, sie also in dem angegriffen werden, was ihnen am heiligsten ist: in ihrer Männlichkeit, liegt ein recht unverhohlener Sadismus. Damit ist der Film näher an einem feministischen revenge movie als an allen politisch korrekten Gutgemeintheiten.     

Stein der Geduld läuft seit 10. Oktober in den deutschen Kinos.

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Texas Chainsaw 3D (John Luessenhop, USA 2013)

Das viktorianische Haus in den texanischen backwoods, das in Tobe Hoopers Meisterwerk The Texas Chainsaw Massacre von 1974 einer Gruppe durchreisender Jugendlicher zum blutigen Verhängnis wird, hat - wie Leatherface, wie die Kettensäge - einen festen Platz in der Ikonographie des Horrorfilms.
Wie sich Texas Chainsaw 3D zu Hoopers Original - und (eng mit diesem verbunden) auch der Ikonografie und den gängigen Konventionen des Genres - verhält, kann man gut daran verdeutlichen, wie der Film mit diesem Haus verfährt. Es wird nämlich zu Beginn restlos nieder gebrannt. Allerdings steht später an anderer Stelle ein anderes größeres, luxoriöseres Haus, das aber natürlich ebenfalls seine Tücken hat. Der Akt des Niederreissens und - mit kleinen aber entscheidendnen Änderungen - Neuerrichtens ist bezeichnend für diesen Film.
Der Prolog schließt direkt an die Ereignise von Hoopers Original an. Die den Fängen von Leatherface & Family entkommene Sally hat die Polizei zu dem Haus geschickt. Der schwarze Sheriff, der zuerst dort ankommt, kann nicht verhindern, dass ein unmittelbar nach ihm eintreffender Lynchmob unter Anführung des örtlichen Bürgermeisters das Haus unter Schrotflintenbeschuß nimmt und in Brand setzt. Leatherface kann jedoch entkommen. Die einzige andere Überlebende dieses, nun ja, Texas Redneck Massakers ist die neugeborenen Edith Sawyer, die einer der Dorfbewohner zu sich nimmt und, unter dem Namen Heather Miller, aufzieht, ohne sie von ihrer Herkunft zu unterrichten. Jahrezehnte später bekommt Heather ein Haus von ihrer ihr bis dato unbekannten Großmutter in einem abgelegenen Teil Texas' vererbt. Gemeinsam mit ihrem Freund und zwei anderen Gleichaltrigen macht sie sich auf den Weg, ihre Erbschaft zu begutachten. Dass Heather gut daran getan hätte, den Brief, den ihre Großmutter ihr zusammen mit dem Schlüssel zukommen ließ, zu lesen, um zu wissen, dass das Haus - und namentlich dessen Keller - nicht unbewohnt sind, ist nur ein Problem, mit dem sie sich im folgenden konfrontiert sieht. Ein anderes ist die örtliche Elite, die zu Ende bringen möchte, was sie einst unvollendet ließ: die vollständige Ausrottung des Sawyer-Clans.
Dass Regisseur John Luessenhop und sein Autorenteam back to the roots wollen, sich für alles, was nach 74 kam (namentlich: drei Sequels, ein Prequel, ein Remake - um von den "inoffiziellen" Nachahmern ganz zu schweigen) nicht zu interessieren scheinen, ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass seine Verehrung für Hoopers Film eine ziemlich blasphemische ist. Schon in der title sequence wird das Original direkt zitiert - und dabei zugleich radikal umgewertet. Die in rot getauchten Blitzlichtaufnahmen zeigen hier nicht mehr verstümmelte Leichen, Opfer von Leatherface und den seinen, sondern diese selbst als Opfer der blutdurstigen Rednecks, die stolz etwa ein abgetrenntes Bein oder die Kettensäge wie Trophäen in die Kamera halten. Nach eben diesem Muster funktioniert der ganze Film. Immer wieder spielt er unmittelbar auf Szenen des Originals an - und löst diese dann vollkommen anders, alle Zuschauererwartungen brüsk über den Haufen werfend, auf. Das ist nicht immer gelungen. Wenn etwa die unendlich oft zitierte Szene, in der Leatherface eine Frau durch den Wald verfolgt, hier recht unvermittelt auf einem Rummelplatz endet, wo sich Leatherface mit einem reichlich klein geratenen Doppelgänger seiner selbst mit Schweinsmaske gegenüber sieht, ist das wohl doch eher recht billiger Scream'scher Postmodernismus. Dennoch ist Texas Chainsaw 3D ein Film, der genau weiß, was er mit seinem Stoff vorhat und sein Konzept konsequent verfolgt. Allein dadurch sticht er weit aus der Maße von Sequels und Remakes - nicht nur - in diesem Franchise heraus.
Inszenatorisch erfindet Luessenhop das Rad sicherlich nicht neu und orientiert sich auch hier an dem subtilen Schrecken von Hoopers Original. So sind die Gewaltspitzen zwar recht blutig, bleiben aber (zumindest in der R-Rated-Version, in der nicht so viel fehlt) relativ kurz. Die 3D-Effekte sind angenehm zurückhaltend. Geschickt nach hinten gestaffelte Räume, statt Pop-outs. Die Szenen, in denen die Kettensäge vom Bildschirm aus auf den Zuschauer zukommt oder, zum Wurfgeschoss umfunktioniert, auf ihn zugeflogen kommt, bilden die absolute Ausnahme.
Am Ende, soviel darf man wohl verraten, kommt es nach allerlei Volten zur Familienzusammenführung im Zeichen der Säge. Die Außenseiter vereinen sich und grenzen sich nicht nur gegen die dörfliche Polit- und Polizei-Dynastie ab - wobei kaum zufällig ein Afro-Amerikaner als einziger auf ihrer Seite steht -, sondern, im Falle Heather/Ediths, auch gegen einen reichlich unloyalen 'Freundeskreis'. Schließlich hat sie die beste Freundin zu Beginn nur begleitet, um (erneut) mit ihrem Freund zu vögeln, und ließ sich dieser nur zu gerne verführen. Damit kommt der Film ganz beim Franchise in seinen satirischsten Momenten an. Denn, wie besagte eine alte tagline nicht so schön: "The Saw is family."   

Dienstag, 15. Oktober 2013

Movie of the Week 4: Narc (Joe Carnahan, USA 2002)


1. Mit dem, schon wieder aus der Mode gekommenen, Begriff mindfuck bezeichnete man ca. ab Beginn der 00er Jahre Filme, in denen sich, meist in einem finalen Plotpoint, herrausstellt, dass alles, was der Protagonist - und in Identifikation mit ihm: der Zuschauer - wahrnimmt, nicht ist, was es zu sein schien. Mit der schließlichen Aufdeckung der Identität des Protaginisten, der nicht ist, was er zu sein glaubte, wird auch die Diegese des Films 'umgeworfen'. Was er für seine und wir für die innerfilmische Realität hielten, entpuppt sich wahlweise als virtual reality, als psychotisches Wahngebilde oder Halluzination oder als 'Geisterwelt'. Bezieht sich der Begriff vorwiegend auf Filme aus den späten 90ern wie Fight Club oder The Sixth Sense, ziehen sich die Vorläufer durch die Filmgeschichte - von Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) über Carnival of Souls (1962) und Blow Up (1966). Nicht in diese Kategorie gefasst, aber doch dramaturgisch eng mit ihr verwandt, sind Filme, deren Aufklärung nicht 'alles' über den Haufen wirft, aber die Figur doch radikal in einem anderen Licht dastehen lässt. Er oder sie entpuppt sich nicht als psychisch krank oder Gespenst, aber ist doch 'nicht was er schien', in dem Sinne, dass die Motivation seines Handelns eine vollkommen andere ist, als es im vorherigen Verlauf des Films erschien. Hier wie dort wird der Vertrag zwischen Film und Zuschauer gebrochen. So fallen wir etwa in Billy Wilders Witness for the Prosecution (1956) auf die 'Inszenierung' Marlene Dietrichs herein oder fiebern in Mario Bavas Cani arrabbiati (1974) mit einem 'Helden' mit, der sich als alles andere als heldenhaft herraustellt.  (Wenn Roger Donaldsons No Way Out (1987) mit der letzten Volte endgültig ins Irr- und Unsinnige kippt, macht er sich in Perfektion über diese Art des Erzählens lustig). Mögen diese Filme auch nicht alle Voraussetzungen des mindfucks erfüllen, so unterwandern sie doch ebenfalls, wie Alexander Geimer in seinem Aufsatz zum Subgenre schreibt, die Bedürfnise und Erwartungen des Zuschauers, die sich "häufig ein Maximum an affektivem Wohlgefühl und Minimum an kognitiver Unruhe vom Ende eines Films erhoffen... Diese Präferenz kann auf ein konstantes anthropologisches Bedürfnis nach Orientierung zurückgeführt werden: Menschen streben auch in der imaginären Teilhabe an fiktiven Situationen einen Zustand an, welcher es ihnen erlaubt die Situation, falls sie echt wäre, zu kontrollieren".


2. Eine Großaufnahme von Jason Patrics Gesicht. Schnitt auf eine Drogenküche. Ein Mann flieht. Die Handkamera, heftig wackelnd, in Patrics subjektiver Sicht verfolgt ihn. Über Zäune und vollgemüllte Parkplätze, durch die Einfahrten und Gartenanlagen trister Siedlungen. Der Fliehende sticht einen Polizisten nieder. Er gelangt zu einem Spielplatz, nimmt ein Kind als Geisel. Patric erschießt ihn, die Mutter des Kindes wird von einem Querschläger an der Hüfte getroffen. Die Exposition von Narc errichtet nur scheinbar klare Dichotomien, um die Grenzen dann sehr schnell wieder zu verwischen. Drogen-Cops und Drogen-Dealer zeigen sich bereits hier in ein sehr komplexes Netz aus Schuld, Intrigen und Abhängigkeiten (nicht zuletzt: der Drogenabhängigkeit) verstrickt. Auch die Idee der Familie als ein Innen, das vor dem Außen dieser kalten und bösen Welt Schutz bieten könnte, wird nur evoziert, um gleich wieder verworfen zu werden. In den Bildern dieser Ghettowelt, wie man sie so trost- und hoffnungslos wahrlich selten gesehen hat, leuchtet die Spielplatzanlage in hellen warmen Farben, wo es sonst nur noch blaustichige Kälte gibt - und doch, das ist bezeichnend, ereignet sich gerade hier das erste der Polzistentraumata, an denen in diesem Film wahrlich kein Mangel herrscht. Im war on drugs, wie ihn der Film darstellt, gibt es nicht nur keine Guten und keine Bösen, es gibt überhaupt keine klaren Fronten mehr. Hier gibt es Niemanden, der irgendetwas unter Kontrolle hat. Nichts, was Orientierung bieten könnte. (Da es in Narc also von Anfang an um das Entgleiten der Welt, den Verlust von Kontrolle und Orientierung geht, ist die letzte Wendung, in der dem Zuschauer Film und Figuren endgültig entgleiten, überraschend wie sie sein mag, nicht mal wirklich ein twist, sonder eher ein sehr konsequenter Schlussstrich.)

  

3. Patric spielt den Polizisten Nick Tellis. Nach einem Disziplinarverfahren wegen der Spielplatzschießerei, bei der die schwangere Mutter ihr Kind verloren hat, soll sich Tellis rehabilitieren, indem er den Mord an einem Polizisten, Michael Calvass, aufklärt. Sein Partner bei der Ermittlung, der bärbeißige Henry Oak (Ray Liotta), war eng mit Calvass befreundet. Wie tief er jedoch wirklich in den Fall verstrickt ist, wird sich erst am Ende zeigen. 
Nichts daran ist wirklich neu. Vieles nah am Klischee. Dass der Film als Thriller trotzdem ganz vorzüglich funktioniert, liegt an der grimmigen Ernsthaftigkeit, mit der er die Versatzstücke zusammensetzt. Kein Hauch von Ironie oder Selbstreflexion. Die an der Arbeit ihres Mannes verzweifelnde Ehefrau, der wenig vertrauenswürdige Partner, Sozialbautürme hinter müllübersäten Brachen, wollen hier niemals der Geschichte des Genres Referenz zollen, sondern sind lediglich die Bausteine aus denen Carnahan eine durch und durch kaputte und abgefuckte Welt baut. Weder die starke Stilisierung in der Farbdramaturgie, noch die Überzeichnung bestimmter Szenen ins Groteske, führen jemals zum Bruch, zur Möglichkeit des Zuschauers zur Distanzierung. Es geht im Gegenteil um dessen größtmögliche Einbeziehung in eine absurd und grotesk gewordene Welt.


4. Schon Steven Soderberghs Traffic folgerte ein Jahr zuvor, dass der "Krieg gegen die Drogen" mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen ist. Wenn das Ende bei Soderbergh im Zeichen einer Abwendung von den Institutionen hin ins Private stand - ein Polizist begleicht eine persönliche Rechnung, ein Staatsanwalt kümmert sich um seine drogenabhängige Tochter -, ist genau das bei Carnahan Prämisse - auch wenn sich diese erst vom Ende her offenbart. In dem Maße, wie am Ende der Film dem Zuschauer entgleitet, entgleitet er auch allen möglichen ideologischen Ausrichtungen, die Polizeifilme so gerne bedienen. Er predigt weder Law & Order, bedient nicht die Vorstellung, dass hier nur mal jemand so richtig aufräumen müsste, noch geht es darum, dass die Polizisten böser sind, als die Dealer, die sie jagen - sie sind aber - mindestens - genau so kaputt. 


 5. Narc ist ein fieser, düster-nihilistischer Kotzbrocken von einem Thriller. Ein Film also, der es einem vielleicht recht schwer macht, ihn zu mögen, aber auch schier unmöglich, sich ihm zu entziehen.  
   



Montag, 7. Oktober 2013

Movie of the Week 3: Das Mikroskop (Rudolf Thome, BRD 1987)





Die schönste Szene in diesem rundum wunderschönen Film: Adriana Altares und Vladimir Weigl mit Gipsarm haben recht umständlichen, aber dadurch nur umso vergnüglicheren Versöhnungssex, gerahmt von Blicken durchs Mikroskop. Wo sich vorher Pantoffeltierchen auf behäbige Einzeller-Art "küssen", flitzen hinterher die Spermien durchs Bild.


Lukas Foerster schreibt, dass Thome mit diesem Film endgültig zu seinem ganz eigenen Stil fand: "Was heute ein Thome-Film ist, bildet sich in den ersten zwei Jahrzehnten der Karriere langsam heraus, ist aber spätestens 1986 ganz und gar da. Seit Das Mikroskop spielen die Filme in ihrem eigenen Universum. Es gibt ein Thome-Stammensemble (das allerdings erstaunlich anschlussfähig ist, siehe die Hannelore-Elsner-Serie Mitte der 00er-Jahre), es gibt Thome-Figuren, -Motive, -Orte, -Situationen, -Milieus. Sieht man von Modischem ab, von Kleidern, Frisuren, Autos, Kommunikationstechnik, könnte Das Mikroskop auch 2010 gedreht worden sein und Das rote Zimmer 1986."
Sehr bezeichnend erscheint mir in diesem Zusammmenhang der Titel des Films. Weigl, der männliche Protagonist, beschäftigt sich, nach seiner (vorübergehenden) Trennung von Altares zu Beginn, mit dem Leben in immer kleineren Formen. Vom Mikrokosmos der Aquarien, mit denen er seine Wohnung vollstellt, bis zu seinen kleinsten, nur noch durch das Mikroskop sichtbaren Formen. Zum Mikroskop wird bei Thome auch die Kamera, und es sind die Details, die durch dieses sichtbar werden, die seine Filme so faszinierend machen.


Nach dem eher enttäuschenden System ohne Schatten (1983) und einer mehrmonatigen Pause in meiner Erschließung vom Werk des Regisseurs, fühlte ich mich in Das Mikroskop, meinem nunmehr fünfzehnten Thome, auf Anhieb "zu hause". Einerseits, weil mich so vieles in diesem Film, eben en detail, an meine Westberliner Kindheit in den Achtzigern erinnerte. Die "beckers beste"-Saftflaschen auf dem Frühstückstisch. Die Werbung für ein Möbelgeschäft mit dem schlichten Namen "Regale" in einem U-Bahn-Waggon (Gibt's den Laden eigentlich noch? Gab's ihn je? Da mein einziger Berührungspunkt mit ihm eben jene Werbeaushänge waren, erschienen mir diese immer ein Stück weit wie ein nur auf sich selbst verweisendes Zeichen, sagen wir, in der Art der Grindhouse-Trailer). Das japanische Feuerwerk auf dem Flughafen Tempelhof, das ich, gebürtiger Tempelhofer, damals mit meinen Eltern vom Dach unseres Hauses aus bestaunte, und über das hier in einer Szene im Fernsehen berichtet wird. Andererseits legt sich über das so vermittelte Gefühl von Authentizität, das spezifisch Thome'sche als sehr eigene Art, "Realität" zu sehen und zu zeigen. So entstehen, wie Foerster den bereits zitierten Text überschreibt, Filme "knapp neben dem Leben".



Das in sich Abgeschlossene des Thome-Universums entsteht, nur scheinbar paradox, gerade durch die Offenheit seiner, manchmal beinahe banal anmutenden Alltagsgeschichten für allerlei - teilweise generische - Zuspitzungen. Das Mikroskop kippt immer wieder ins Komische, vor allem dann, wenn es um Sexualität - und Fortpflanzung - geht. Neben der eingangs erwähnten Szene, mochte ich besonders den Kauf von Multicolor-Buntbarschen, die, wie der Tier-Fachverkäufer informiert, polygame Maulbrüter sind. Ins Tragische, das durch eine finale Volte ins Spiel kommt, und dem sich der Film dann aber nicht hingibt. Schließlich - aber sicherlich nicht zuletzt - ins Märchehafte, das Thome in Interviews im Kontext seiner Filme gerne als offene Provokation für den Zuschauer beschreibt. Letzteres hier in der Figur der, von Malgorzata Gebel wunderbar mysteriös gespielten Frau, die Weigl auf der Straße anspricht und fortan zu einem Beziehungsdreieck führt, das sehr konsequent entgegen jeglicher Genre-Vorgaben aufgelöst wird. In der ersten Einstellung, in der sie zu sehen ist, sitzt sie auf einer Bank, in deren rote Farbe das Wort "Fuck" geritzt wurde und liest Aladin und die Wunderlampe. Die Kamera und die Xylophon-Klänge auf der Tonspur stilisieren den Berliner Park zum Märchenwald.