Sonntag, 15. September 2013

Navajo Joe (Sergio Corbucci, Italien, Spanien 1966)

Sergio Corbucci "verdanke" ich eines meiner frühen traumatischen Film-Erlebnisse. Dass es einen Western geben konnte, der nicht nur ausgesprochen unhappy endete, sondern auch für gängige Western-Happy-Ends nichts als Spott und Hohn übrig hatte. Dass die Welt auch im Film so schlecht sein konnte. Dass also am Ende von Il grande silencio (den ich natürlich damals noch unter dem reißerischen deutschen Verleihtitel Leichen pflastern seinen Weg kannte) der böse Klaus Kinski und seine Bande den Helden mitsamt seiner Freundin ermorden, ein Massaker unter den wehr- und schuldlosen Bewohnern eines Dorfes anrichten und anschließend ungestraft davon reiten konnten, das war für mich, im zarten Alter von elf oder zwölf, dann doch etwas viel des Schlechten und hinterließ bleibenden Eindruck.
Zwei Jahre vor Il grande silencio, 1966, hatte sich Corbucci im italienischen Genre-Kino einen Namen gemacht. "Der zweite Sergio" wurde er genannt, weil sein Django, neben den Filmen Sergio Leones wohl der berühmt-berüchtigste "Spaghetti-Western", sprichwörtliche Bekanntheit erlangte, und mehrere - mehr oder minder - offizielle Fortsetzungen und unzählige Rip-Offs nach sich zog.
Wesentlich unbekannter hingegen ist Navajo Joe, der nach dem überragenden Erfolg von Django noch im gleichen Jahr und in den selben Kulissen gedreht wurde.
Die marodiernde Bande um Duncan () tötet willkürlich Indianer, um ihre Skalps für einen Dollar pro Stück an den Sheriff in der nächsten Stadt zu verkaufen. Unter ihren Opfern befindet sich auch die Frau des "Halbbluts" Joe (Burt Reynolds), der nun darauf aus ist, ihren Tod zu rächen. Die Gelegenheit dazu bietet sich ihm, als Duncans Bande plant einen Zug zu überfallen, der eine halbe Millionen Dollar in die Bank des abgelegenen Ortes Esperanza bringen soll. Joe gelingt es, den zunächst von den Banditen entführten Zug in seine Gewalt und nach Esperanza zu bringen. Die Bevölkerung dort ist ohne jeglichen Schutz dem anrückenden Duncan und seine Männern ausgeliefert. Joe erklärt sich bereit, für einen Dollar Kopfgeld für jeden getöteten Banditen, sie zu beschützen. 
Navajo Joe ist für mich, von den (gemessen an einer Filmographie, die - laut IMDb - 63 Titel umfasst, sehr wenigen) Corbuccis, die ich kenne, einer der schwächeren, und sicherlich nicht das Meisterwek, das das DVD-Cover vespricht. Georg Seeßlen schreibt es gebe noch in Corbuccis "miserabelsten Filmen Szenen ..., die von ungeheurem Können zeugen, und umgekehrt noch in seinen besten Filmen solche von übelster Schlamperei". Gerade in der ersten halben Stunde sind die inszenatorischen Kabinett-Stückchen eher rar gesät, die Komposition der breiten Techniscope-Bilder zeugt des öfteren von ziemlicher Unbeholfenheit. Auch dramaturgisch findet der Film erst nach knapp der Hälfte der Laufzeit zu sich, kann die - allesamt tragischen - Geschichten seiner Figuren voll entfalten, während er vorher immer wieder zu einer relativ unmotivierten Aneinanderreihung von Grausamkeiten zu verkommen droht, die Corbuccis bessere Filme, bei aller Härte und allem Zynismus, nie sind. Ein weiteres Problem ist die Hauptfigur, wobei es sich hier genau entgegengesetzt verhält. Richtig "gut" ist Burt Reynolds nur zu Beginn des Films. Wortlos, als Schatten auf einer Bergkette, einer der, vornehmlich in Untersicht gefilmt, ständig lauert, um dann blitzschnell und lautlos zuzuschlagen und systematisch einen nach dem anderen von Duncans Männern zu töten. Wenn es dann jedoch daran geht, aus dieser bedrohlichen Präsenz, diesem geradezu übernatürlich anmutenden Racheengel eine Figur, einen Menschen zu machen, stehen dem Reynolds in seiner ersten Kino-Hauptrolle doch sehr begrenzten schauspielerischen Mittel im Weg. Trotz dem - etwas lächerlich - rot geschminkten Gesicht bleibt er ziemlich blass, und lässt sich von Aldo Sambrell als ebenso bösem wie zerrissenem Antagonisten relativ widerstandslos die Show stehlen. 
Trotz dieser Schwächen ist es sehr erfreulich, dass Koch Media den Film seit einigen Jahren in einer absolut makellosen DVD- und Blu-Ray-Veröffentlichung einem geneigten deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Von filmhistorischer Bedeutung ist er schon deshalb, weil die Figur eines indianischen Racheengels 1966 ein Novum im Genre darstellte - und damit zumindest ein Stück weit auch dem amerikanischen Western vorgriff. Zwar hatte John Ford mit Cheyenne bereits im selben Jahr einen Film gedreht, der sich mit den Leiden des titelgebenden Stammes beschäftigte, der versucht, aus dem lebensfeinlichen Gebiet, in das er umgesiedelt wurde in seine Heimat zurückzukehren, und den Ford selbst als seine Entschuldigung bei den Indianern bezeichnete. Erst um 1970 häuften sich jedoch in den USA Filme wie Soldier Blue, A Man called Horse und Little Big Man, die sich kritisch - und teilweise denkbar drastisch - mit dem Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern auseinandersetzten.
Auch im Schaffen Quentin Tarantinos hat der Film deutliche Spuren hinterlassen. In Kill Bill verwendete er ein Stück aus dem einprägsamen Score von Ennio Morricone (der hier unter dem Pseudonym Leo Nichols arbeitete). Ebenso deutlich sind die Bezüge in Inglourious Basterds. Wie Joe in einer Szene einem Gegner das Emblem seines Stammes mit dem Messer in die Stirn ritzt, so brandmarkten, mehr als vierzig Jahre später, die Basterds die überlebenden Nazis auf die gleiche Weise mit dem Hakenkreuz. Bei Tarantinos jüdisch-amerikanischer Rachephantasie ist die Umkehrung der Gewalt immer auch ein symbolischer Akt, eine Inversion der Zeichen, wie Georg Seeßlen in seinem Buch über Inglorious Basterds ausführlich erläuterte: Auf den Davidsstern am Revers der Juden reagieren die Basterds mit dem Hakenkreuz auf der Stirn der Nazis. "Auf die Bücherverbrennung der Nazis haben wir endlich mit der Verbrennung des Nazi-Films reagiert." Auch das findet sich bereits bei Corbucci angelegt. Joe verlangt als Vorraussetzung dafür, sich Duncan zu stellen, dass er den Stern des Sheriffs bekommt. Unter dem Zeichen des Gesetzes, dass sich am Genozid an den Indianern - mindestens - mitschuldig machte, will er diese rächen. Und auch der Dollar Kopfgeld, den er für jeden getöteten Banditen verlangt ist sehr buchstäblich symbolisch zu verstehen. Der Wertlosigkeit, die ein indianischen Leben für seine Feinde hat, setzt er die "Entwertung" ihres eigenen Lebens entgegen.
Ein denkwürdiger Dialog entsteht, als die Autoritäten von Esperanza Joe den Sheriffs-Stern verweigern wollen mit der Begründung, dass nur ein "rechtmäßiger Amerikaner" dieses Amt bekleiden könne. Joe antwortet: "Mein Vater wurde hier geboren, der Vater meines Vaters, genauso der Vater meines Vaters meines Vaters. Wo wurde dein Vater geboren?" Als der Sheriff nach einigem Zögern zugibt: "In Schottland", erwidert Joe: "Dann bist du kein rechtmäßiger Amerikaner. Nur Amerikaner können das Gesetz und die Gerechtigkeit der Amerikaner schützen." Steffen Wulff schreibt in seinem ausführlichen Text im Booklet der Blu-ray: "Mit dieser intelligenten Argumentation führt Joe das Gesetz und die Selbstgefälligkeit Amerikas ad absurdum - und Corbucci dem Zuschauer vor Augen, dass sein indianischer Held der Stadtbevölkerung nicht nur moralisch, sondern auch intelektuell überlegen ist." Diese Lesart mag, sieht man einmal von dem etwas plumpen Antiamerikanismus und der archaischen Berufung auf das Geburtsrecht ab, zutreffend sein. Corbucci geht jedoch noch ein gutes Stück weiter, indem er nicht nur dem Mythos des Siegs der Zivilisation im amerikanischen Western, die Darstellung des Genozid und einen indianischen Racheengel entgegenstellt, sondern auch diesen Helden selbst gleich wieder, wie es eben seine Art ist, eher kaputt macht als dekonstruiert. Ein guter Wilder ist Joe mitnichten. Mehr noch als bei Leone spiegelt bei Corbucci der "Gute" den "Bösen" und beide gleichen sich nicht zuletzt darin, dass sie ziemlich "häßliche" Dinge tun, um ihre Ziele zu erreichen. Wie Joe ist auch Duncan Mestize, und wo der Protagonist die Gewalt gegen sein Volk rächen will, tötet der Antagonist aus Hass auf seine beiden Eltern relativ beliebig Indianer und Weiße. Gut ist keiner von beiden. Nur wild.
Corbuccis Western zelebrieren die Gewalt, aber sie weigern sich strikt, sie zu instrumentalisieren - für welche Seite auch immer. Die Boshaftigkeit der Figuren macht dem Regisseur immer wieder sichtlich Spaß, doch es findet sich nirgendwo eine große Erzählung hinter ihr, die sie rechtfertigen würde. Der "guten Sache" des nation building im amerikanischen Genre-Kinos setzt Corbucci Figuren entgegen, die aus reinem Partikularinteresse handeln. Sie wollen sich rächen und sich bereichern - und fast immer schwingt dabei auch ein gehöriger Teil Sadismus mit.
Doch Corbucci geht nochmal ein Stück weiter. Im furiosen Finale töten Joe und Duncan sich gegenseitig und im Sterben schickt Joe sein Pferd mit der halben Millionen Dollar zurück nach Esperanza. Was aus Joe geworden ist, ist den Bewohnern vollkommen gleichgültig, wie einer von ihnen unverhohlen bemerkt. Hauptsache, das Geld ist da. Die Wilden sind immer noch besser als die Zivilisation, der sie Platz machen. Rache ist für Corbucci immer noch ein "edleres" Motiv als reines Streben nach Besitz. Dieses Ende mag nicht ganz so schockierend sein wie das von Il grande silencio, aber es ist - mindestens - genauso zynisch. Zumal, wenn man den Namen des Dorfes bedenkt. Das ist also von der Hoffnung auf eine neue Welt geblieben - laut Sergio Corbucci. 

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