Mittwoch, 11. September 2013

Meine erste Nachtschicht...

...oder: Das taktile Kino des Signor Argento


Schon lange hatte ich vor, die u. a. von Thomas Groh kuratierte Filmreihe "Die Nachtschicht" zu besuchen, bei der es an jedem ersten Samstag im Monat "Abseitiges und Abscheuliches" (Groh) im Babylon in Mitte zu sehen gibt. Anlässlich der Veröffentlichung des Buches Dario Argento Anatomie der Angst, der ersten Sammlung von Aufsätzen und Essays in deutscher Sprache, die sich ausschließlich mit dem Schaffen des italienischen Horror- und Giallo-Meisters beschäftigt, gab es diesmal ein Argento-Special. Angekündigt war ein Überraschungsfilm, jetzt darf ich wohl verraten, dass es sich um Tenebre von 1982 handelte, so großzügig wie humorvoll eingebetet durch einen Vorfilm, eine Einführung zum Regisseur und die Präsentation eines Spezial-Gasts. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen - zumal es mir die Möglichkeit gab, erstmals einen Argento auf großer Leinwand zu sehen und zwar, der Maxime der Reihe entsprechend, als 35mm-Kopie. 
In seiner Einführung betonte Jochen Werner das Sinnliche an Argentos Kino. Die Sinnlichkeit in den auditiven und visuellen Exzessen des Regisseurs bedarf eigentlich keiner weiteren Erläuterung. In Tenebre ist mir aber diesmal, wie auch schon bei vorigen Sichtungen, eines besonders aufgefallen: Die Konzentration auf Texturen, die - nicht nur aber besonders - während der ausufernden Kamera-Fahrten ertastet werden. Argentos Kino lässt sich also auch, zumindest in Tenebre - seine anderen Filme müsste ich erneut sehen, um beurteilen zu könne, wie es sich dort verhält - als ein sehr taktiles Kino beschreiben. Die Hervorhebung spezieller Texturen zieht sich durch den gesamten Film: von dem brennenden Holz im Vorspann über das Rasiermesser von dem Blut abgewaschen wird bis zu den Autoscheiben im strömenden Regen gegen Ende. Die wichtigste Szene in diesem Hinblick, und gleichzeitig die einzige, die mir nach etlichen Jahren, in denen ich den Film nicht gesehen habe, noch deutlich in Erinnerung geblieben ist, ist eine Plansequenz im ersten Drittel des Films. Der Killer mit den schwarzen Handschuhen hat es diesmal auf ein lesbisches und momentan ziemlich zerstrittenes Paar in ihrem protzig-futuristischen Eigenheim abgesehen. Die Kamera nähert sich zunächst einem Fenster des Hauses, in dem das Gesicht einer der beiden Frauen zu sehen ist, dann gleitet sie nach oben an der Fassade empor bis zum Dach, tastet sich vorwärts, erfühlt auf ihrem Weg Beton, Sandstein, das verwitterte Holz der Jalousien, Dachziegel, erforscht durch die Fenster die Tiefe der Räume und vom Dach hinab die des Hofes, zieht sich dann wieder zurück, um ihren Weg am Haus entlang fortzusetzen, bleibt schließlich an der Jalousie eines Fensters stehen, links unten kommt ein Bolzenschneider ins Bild, der die Jalousie aufschneidet. Dann gibt es einen Schnitt ins Innere des Hauses, wieder auf die Frau. Der verschachtelte, auch bei mehrmaligem Sehen kaum genau nachvollziehbare Weg der Kamera steht sowohl in Beziehung zur verwinkelten Architektur als auch zu den sich gegen Ende häufenden immer abstruseren plot twists des Films. Andreas Rauscher schreibt in seinem Aufsatz über Tenebre, dessen Dramaturgie "realisiert in ihrem Wechselspiel aus atmosphärischen Abschweifungen und abrupten Plot-Points ein erzählerisches Äquivalent zu den ausladenden Kamerafahrten."
Für mich bildet diese Szene aber zugleich einen Höhepunkt in dem Versuch des Films, Texturen filmisch erlebbar, also erfühlbar zu machen. Ausgangs- und Endpunkt der Fahrt bildet der menschliche Blick, der point of view des Killers, an den sich der Kamera-Blick allerdings eher herantastet als wirklich mit ihm eins zu werden. Die Bewegung, die dazwischen liegt transzendiert das menschliche Sehen nicht zuletzt dadurch, dass es sie mit dem Tastsinn kurz schließt, die Kamera "sieht" und "tastet" zugleich. Wo die Kamerafahrt eigentlich die Dramaturgie des Films eher unterbricht als sie voranzutreiben (betrachtet man die starke Sexualisierung der Morde bei Argento einerseits, die Tatsache, dass jeder einigermaßen geübte Zuschauer schon bei Beginn der Einstellung weiß, was passieren wird andererseits, könnte man sie als mehrminütige Lustverzögerung deuten) bringt sie dem Film doch einen Mehrwert, indem sie ein eigenständiges Grauen der Textur schafft. Kalt und abweisend sind diese Oberflächen wie die Architektur, zu der sie sich zusammensetzen, eine menschenfeindliche Umgebung, auf die passt, was Walter Benjamin über die bürgerlichen Wohnungen des späten 19. Jahrhunderts schrieb: "Die seelenlose Üppigkeit des Mobilars wird wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam."  
Schließlich im Finale gesellt sich zu diesem Grauen der Textur eine spezifische Textur des Grauens. Eine Frau verwandelt mit der aus dem Stumpf ihres abgehackten Arms spritzenden Blutfontäne eine Wand in eine Art Action-Painting, schafft so ein sehr texturbetontes "Kunstwerk", wie es der Film selbst ist. Der (zweite) Killer wird in der letzten Szene von einem spitzen Stab, Teil einer Skulptur, aufgespießt, der ihm durch den Bauch bis in die Wand hinter ihm dringt. Im Todeskampf versucht er sich diesen aus dem Leib zu ziehen, doch seine Hände gleiten an dem polierten Stahl ab wie dem Zuschauer zuvor immer wieder der Plot in seinen absurden Volten entglitt. Die Textur bietet keinen Halt mehr. Dann schreit Daria Nicolodi - und der Film ist vorbei. 



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